London. Herz, Tränen und Liebe: Marcus Willis’ Tennis-Karriere ist hollywoodreif. In Wimbledon trifft der Brite aus den Tiefen der Weltrangliste nun auf Federer

Am Tag vor dem größten Spiel seiner Karriere stand der Mann vom Weltranglistenplatz 772 in frisch ausgepackten Tennisshorts auf einer Fernseh-Plattform der BBC neben Martina Navratilova und wirkte kein bisschen eingeschüchtert. Marcus Willis blinzelte in die Sonne. Er lächelte verschmitzt, und es wurde spätestens in diesem Moment klar, warum sich vor ein paar Monaten eine sehr hübsche Frau in ihn verliebt hatte. Willis hatte die Zahnärztin Jennifer Bate bei einem Konzert der britischen Sängerin Ellie Goulding getroffen, es war wohl Liebe auf den ersten Blick, und dieser erste Blick veränderte alles.

Der 25 Jahre alte Engländer hatte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr allzu viel mit Profitennis im Sinn. Er war einst ein guter Juniorenspieler gewesen, hatte die Sache aber nicht so ernst genommen, wie es nötig gewesen wäre; Platz 322 war vor zwei Jahren seine beste Platzierung in der Weltrangliste. „Ich war ein Loser“, sagt Willis. „Ich hatte Übergewicht, hab mich selbst im Spiegel angeschaut und dachte, du bist doch besser als das Bild hier.“ Seine Einstellung besserte sich, aber in letzter Zeit war er so oft verletzt, dass er einen Job als Tennislehrer beim Warwick Boat Club in der Nähe von Coventry annahm und dort auf einer idyllischen Anlage mit elf Rasenplätzen für 30 Pfund in der Stunde mit allen Altersklassen arbeitete, Kinder und Rentner inklusive.

Um Geld in die leere Kasse zu bringen, spielte er auch in Deutschland beim Kölner Regionalligisten Marienburger SC, und er hatte ein Angebot aus den USA, um in Philadelphia als Tennislehrer zu arbeiten. Vermutlich hätte er das Angebot angenommen, hätte das Schicksal nicht in der schlanken Gestalt von Jennifer Bate Einspruch erhoben. Er könne doch jetzt nicht einfach nach Philadelphia verschwinden, mahnte sie, und im übrigen sei er ein Idiot, wenn er seine Karriere als Tennisspieler einfach aufgebe. Das fand er schließlich auch, legte die Idee mit den USA zu den Akten und griff nach einer neuen Chance.

Bei einem Turnier des englischen Tennis-Verbandes gewann Willis einen Platz für die Wimbledon- Qualifikation, er siegte weitere dreimal und landete im Hauptfeld des berühmtesten Turniers der Welt, und in der ersten Runde gewann er zur Begeisterung seiner Landsleute gegen die Nummer 53 der Welt, den Litauer Ricardas Berankis (6:3, 6:3, 6:4). Viele seiner Schläge sahen ein wenig merkwürdig aus – er selbst nennt es unorthodox. Mit seinem Linkshänder-Aufschlag richtete er einiges Unheil an, und die Rückhand spielte er mit einer unangenehmen Mischung aus Unter- und Seitenschnitt. Jennifer Bate stand in der ersten Reihe, sie hatte sich eine britische Flagge um die Hüfte gebunden.

Unter den 318 Zuschauern auf Außenplatz 17 waren auch Eltern und Geschwister, Onkel und Tante, die sich in der langen Schlange für Karten angestellt hatten. Diesen Mittwoch, beim Spiel in Runde zwei, werden mehr Leute dabei sein – rund 15 000 an Ort und Stelle und Millionen vor den Fernsehern. Willis’ Gegner wird der Meister persönlich sein, Roger Federer.

Er will weiter auch Trainer bleiben

„Das wird ein großer Moment für ihn sein und für mich auch“, sagt Federer. „Diese Geschichte ist wirklich unglaublich, und es ist die Art von Geschichte, die wir in unserem Sport brauchen. Ich würde gern von ihm selbst wissen, wie das alles gelaufen ist.“ Normalerweise ist Federer der Liebling des Volkes in Wimbledon. Diesmal könnte die Sache ein wenig anders sein, und Marcus Willis wird versuchen müssen, bei aller Gänsehaut nicht den Überblick zu verlieren.

Was die Mitglieder des Warwick Boat Club betrifft, die müssen sich keine Sorgen machen, ihren Coach zu verlieren. „Das werde ich weiter machen“, sagt Marcus Willis.