Berlin.. Oliver Bierhoff hofft auf Schein-Normalität bei der EM. Im Interview spricht der Nationalmannschaftsmanager über die Sicherheitslage und mehr.

Oliver Bierhoff ist zu spät. Im Grand Hyatt Hotel wird der Nationalmannschaftsmanager noch für ein Foto mit allen Betreuern benötigt. Der Fotograf macht Späße, albert herum und hofft auf gut gelaunte Gesichter. Doch nach dem erneuten Attentat von Brüssel ist zumindest Bierhoff der Spaß vergangen. Kurz vor den beiden Klassikern in Berlin gegen England (Samstag, 20.45 Uhr/ Live bei uns im Ticker) und in München gegen Italien (Dienstag, 20.45 Uhr/ Live bei uns im Ticker) hat die Sicherheitsdebatte den Fußball ein weiteres Mal thematisch verdrängt.

Herr Bierhoff, macht sich Ihre Frau Sorgen um Sie, wenn Sie zum Länderspiel reisen?

Oliver Bierhoff: Ich glaube, jeder macht sich zur Zeit Sorgen – gerade nach den Attentaten von Paris und den neuen Vorkommnissen in Brüssel. Dabei hatte man das trügerische Gefühl, dass man sich wieder etwas sicherer fühlen konnte. Genau diese Unberechenbarkeit macht den Menschen Angst. Das ist bei mir auch nicht anders. Früher, zum Beispiel bei der WM in Südafrika und in Brasilien, wusste man, dass man bestimmte Orte zu meiden hatte. Heute kann man sich nirgendwo mehr sicher fühlen.

Wie oft ist die Nacht von Paris noch ein Thema bei Ihnen in der Familie?

Bierhoff: Das hält sich Gott sei Dank in Grenzen. Ich glaube, ein Vorteil war, dass ich mir während dieser Nacht gar nicht erlauben konnte, mir zu große Gedanken zu machen. Ich hatte keine Zeit und war für diese rund 80 Menschen in den Katakomben vom Stade de France verantwortlich. Darum ging es. In so einem Moment funktioniert man einfach.

Sie hatten keine Angst um Ihr eigenes Leben?

Bierhoff: Doch, natürlich. Es gab ja viele Informationen und auch einige Fehlinformationen in dieser Nacht. Zwischenzeitlich hatte ich Angst, dass vielleicht gerade wir als Weltmeister das Ziel der Terroristen sein könnten. Diese Angst konnte ich wegschieben, doch so richtig greifen konnte ich das alles nicht.

Können Sie sich denn uneingeschränkt auf diese Hochsicherheits-EM freuen?

Bierhoff: Die Freude auf so ein großes Turnier ist absolut da – und diese Freude werde ich mir auch nicht nehmen lassen. Eindeutig wird die Sicherheit eine größere Rolle in diesem Sommer spielen, doch wenn der Ball erst einmal rollt, dann entsteht zumindest für den Moment eine Art Schein-Normalität.

Sie haben gesagt, dass Sie sich bei einer entsprechenden Gefahrenlage auch EM-Spiele ohne Zuschauer vorstellen könnten. Ist dieser Preis nicht sehr hoch?

Bierhoff: Diese Frage ist extrem schwer zu beantworten. Auf der einen Seite geht die Sicherheit der Menschen natürlich immer vor, auf der anderen Seite wollen wir uns unsere Freiheit auch nicht einschränken lassen.

Wie sehr beschäftigt Sie das Thema Sicherheit im Hinblick auf das Mannschaftsquartier in Evian?

Bierhoff: Nach all dem, was passiert ist, müssen wir auf die Sicherheit vor Ort ein besonderes Augenmerk legen. Trotzdem wollen wir keine Hochsicherheitsfestung in Evian.

Wie soll das Teamquartier in Evian werden?

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Bierhoff: Ich glaube, dass die Atmosphäre bei einem Turnier sehr wichtig ist. Sie darf aber nicht gewollt und aufgesetzt wirken. Vielleicht schaffen wir es, die Leichtigkeit und Lebensfreude, die Frankreich ausstrahlt, in unser Quartier zu transportieren. Campo Bahia bei der WM 2014 war im Nachhinein das Paradebeispiel. Das hat ein paar Prozentpunkte ausgemacht. Eigentlich wollte ich nun einen totalen Bruch, dass man gar keine Vergleiche zu Brasilien anstellt.

Wie hätte der aussehen sollen?

Bierhoff: Wir wären gern auch nach Paris gegangen. Das wäre auch ein Zeichen gewesen. In der Art: Wir sind Weltmeister, wir sehen uns da, wo wir auch das Finale spielen wollen. Aber rund um Paris haben wir nicht das gefunden, was zu uns passt. Ein Schloss mit barocken Zimmern wollten wir nicht. Evian ist besser: wunderschöne Gegend, gutes Wetter, toller Blick, viel Licht, kurze Wege und eine gute Atmosphäre. Das hat auch nichts damit zu tun, wie viele Sterne das Hotel hat, sondern ob man sich in den Räumen immer wieder begegnet.

Musste man der Generation Bierhoff andere Dinge bieten als der Generation Götze heute?

Bierhoff: Die Zyklen einer Generation werden ja immer kürzer. Es gab die Generation Frings, Ballack, Kahn, dann kamen Lahm, Mertesacker, Schweinsteiger, danach Khedira, Özil, Götze. Jetzt sind es noch jüngere. Früher haben die 23-Jährigen genauso Karten gespielt wie die 32-Jährigen. Heute wissen die Jüngeren ja kaum noch, was eine SMS ist. Die Altersgruppen haben einen anderen Rhythmus. Alles ist individueller geworden. Aber wir haben hier Abläufe, bei denen alle zusammenfinden müssen.

Kapitän Bastian Schweinsteiger droht für das Turnier verletzt auszufallen. Wie schwer wäre sein Verlust?

Bierhoff: Das ist ein herber Rückschlag für ihn, aber es ist noch alles möglich. Das haben Sami Khedira und er selbst auch vor und während der WM in Brasilien gezeigt. Bastian hat genug Qualität und Erfahrung, um das eventuell kompensieren zu können. Wir hatten mit Ballack mal eine ähnliche Thematik. Seine Absage machte einen Raum frei, den andere Spieler nutzen konnten. Als Persönlichkeit und als Spieler ist Bastian sehr wichtig, aber die Gruppe wäre stark genug, den möglichen Ausfall aufzuwiegen. 

Wann ist die EM für den Weltmeister ein erfolgreiches Turnier?

Bierhoff: Wenn wir es unter die ersten Vier schaffen, ist es schon ein Erfolg.

Wie wichtig ist es im Hinblick auf die Motivation des Teams, Spieler wie Ilkay Gündogan oder Marco Reus dabei zu haben?

Bierhoff: Das ist enorm wichtig, denn die haben einen großen Erfolgshunger – die anderen hoffentlich auch (lacht). Beide wissen, sie wären 2014 sicher dabei gewesen, wenn sie nicht durch Verletzungen ausgeschieden wären. Beide haben eine unglaublich hohe Qualität. Und dieses Gefühl zu haben „Das kann mein Turnier werden“, ist eine besondere Motivation. Sie wollen den Schritt machen, den Spieler wie Boateng, Neuer, Özil, Khedira schon gemacht haben.