Essen.. Neuropsychologe Gerhard Müller sieht Gehirnerschütterungen als Gefahr für den Sport. Bei 68 von 85 toten US-Footballern wurden Hirnschäden festgestellt. In Deutschland hält sich das Interesse am Thema noch in Grenzen.

Die ersten Profis aus der Fußball-Bundesliga waren schon zur Untersuchung bei ihm. Aber Gerhard Müller (48) verrät keine Namen. Der Neuropsychologe aus Würzburg ist in Deutschland der Pionier auf dem Gebiet der Sportneuropsychologie. Dabei geht es darum, leichte Kopfverletzungen bei Sportlern früh zu erkennen und entsprechend zu reagieren. In den USA gehören die Tests längst zum Alltag. Doch Müller sagt: „In Deutschland beschäftigen sich von den rund 2000 Neuropsychologen höchstens zehn mit Sport.“

Warum gibt es im US-Sport ein Bewusstsein für die Gefährlichkeit einer leichten Kopfverletzung und in Deutschland nicht?

Gerhard Müller: In den USA sind Football, Basketball und Eishockey die großen Sportarten. Gerade im Football knallt es häufiger. Es gibt in der US-Profiliga NFL Spieler, die 30 bis 40 leichte Gehirnerschütterungen in ihrer Karriere hatten. Die Vereins-Funktionäre haben begriffen, dass ein falscher Umgang mit den Verletzungen noch größeren Schaden anrichten kann, etwa ein frühzeitiges Karriere-Ende. Also eine pragmatische Entscheidung, etwas dagegen zu tun.

Mit einem großen Programm?

Müller: Ja, natürlich. Es gibt in Boston ein Forschungszentrum, an dem bisher 85 Gehirne toter Football-Spieler untersucht wurden. Bei 68 Spielern lag eine chronische Hirnschädigung vor. Es wird vermutet, dass die beobachteten Schäden auf wiederholte Gehirnerschütterungen zurückzuführen sind. Ein großes Thema im US-Sport, aber in Deutschland interessiert Football kaum jemanden.

Aber Eishockey…

Müller: … richtig, aber im Gegensatz zur DEL in Deutschland ist die NHL in Nordamerika eine sehr große Nummer mit ganz anderen Möglichkeiten. In Deutschland beginnen nun erfreulicherweise einzelne Vereine der ersten Liga, sich für das Thema zu interessieren. Sie haben viele Spieler aus den USA, die den professionellen Umgang mit Kopfverletzungen aus ihrer Heimat kennen. Eine der ersten öffentlichen Diskussionen hierzulande gab es durch den Fall von Stefan Ustorf und dessen Kopfverletzung.

Hatten Sie direkt mit diesem Fall zu tun?

Müller: Ich stamme wie Stefan Ustorf aus Kaufbeuren, daher habe ich seine Eishockey-Karriere genau verfolgt. Es war ein klassischer Fall. Nach einem Check eines Gegenspielers litt Stefan unter Kopfschmerzen und Übelkeit. Er wusste aber nicht so genau, was los war, und wollte wie schon mehrfach zuvor schnell zurück aufs Eis. Am Ende musste er allerdings seine Karriere beenden, wahrscheinlich aufgrund der längerfristigen Folgen mehrerer im Laufe seiner Karriere erlittener Gehirnerschütterungen.

Ist das so gefährlich wie es klingt?

Müller: Der Neuropsychologe ist nicht der Mediziner, das darf man nicht verwechseln. Erst muss der Arzt klären, ob es keine erkennbare Verletzung am Kopf oder im Gehirn gibt. Wenn medizinisch alles in Ordnung ist, beginnt die Arbeit des Neuropsychologen.

Wie sieht die aus?

Müller: Im Optimalfall funktioniert es so: Wir führen vor Beginn einer Saison einen Baseline-Test zum Prüfen der wichtigsten Gehirnfunktionen wie Reaktionsschnelligkeit, Konzentration und Gedächtnis durch. Kriegt der Sportler dann einen Schlag oder einen Stoß im Spiel oder Training ab, durchläuft er den Test erneut. An eventuellen Abweichungen können wir Funktionsstörungen selbst bei leichten Gehirnerschütterungen erkennen und reagieren. Trainer und Physiotherapeuten sind oft überfordert, da ihnen die Grundlagen zur Entscheidung fehlen, wann ein Spieler wieder ohne größeres Risiko zurückkehren kann.

Auch die Mannschaftsärzte können nicht helfen?

Müller: Die meisten von ihnen sind Chirurgen oder Orthopäden, die Hilfe auf diesem Gebiet dankbar annehmen. Wir hatten den Fall einer Sportlerin, die über Übelkeit und Müdigkeit klagte. Ihr Arzt riet ihr: „Gehen Sie doch mal zum Gynäkologen, vielleicht sind Sie schwanger.“ War sie nicht, sie hatte bei einem Trainingsunfall eine Gehirnerschütterung erlitten.

Wie viele Teams betreuen Sie?

Müller: Regelmäßig drei Mannschaften, aber wir sind erst in der Anfangsphase. Zum einen dauert der Baseline-Test eine Stunde, und Sportler haben gerade in der Saisonvorbereitung einen engen Zeitplan und nur selten Zeit für so etwas.

Und zum anderen?

Müller: Zum anderen müssen wir den Sportlern erst klar machen, dass da kein verrückter Psychologe auf sie zukommt, sondern jemand, der ihnen bei der Rückkehr ins Training oder in den Spielbetrieb helfen will.

Sollten Sie davon nicht zunächst die Funktionäre überzeugen?

Müller: Wir sind dabei, aber es braucht seine Zeit. Zwei Spitzenverbände haben zum Beispiel zunächst sehr zurückhaltend reagiert.

Warum?

Müller: Ich kann es nur vermuten, aber natürlich hört niemand gerne etwas über Kopfverletzungen in seinem Sport. Doch wir halten immer mehr Vorträge, etwa beim DOSB oder beim bayerischen Fußball-Verband.

Ist Fußball dabei ein Thema?

Müller: Sicher, jedes Wochenende in der Bundesliga! Es gibt eine Studie der Universität Bochum, die herausgefunden hat, dass zehn Prozent der Verletzungen im Fußball mit dem Kopf zu tun haben. Es passiert, wenn Spieler beim Abwehrverhalten mit den Köpfen zusammenstoßen, oder auch bei einem Ellenbogencheck. Beim Football wächst die Zahl dann schon auf zwanzig Prozent an.

Demnach schauen Sie bei jedem Boxkampf weg?

Müller: Boxen ist ein sehr spezielles Thema. Jeder zehnte Boxer erkrankt im Alter an Alzheimer. Das ist genau die Zahl, die dem Durchschnitt der Bevölkerung entspricht. Nur tritt die Krankheit bei ehemaligen Boxern 15 Jahre früher auf.