Wolfsburg. Leipzigs Marcel Halstenberg spricht vor dem EM-Qualifikationsspiel in den Niederlanden über seinen ungewöhnlichen Weg und das Vorbild Holland.
Marcel Halstenberg (27) ist ein gefragter Mann. Der Leipziger kommt als Letzter der angefragten Na-tionalspieler in den Raum „Deli“ im Hotel Ritz Carlton. Leroy Sané sitzt gegenüber, Matthias Ginter nebenan und Julian Brandt ist auch noch da. Mehr Nationalspieler geben in den Tagen vor dem so wichtigen Länderspiel in Amsterdam gegen die Niederlande (So., 20.45 Uhr/RTL) keine Interviews.
Herr Halstenberg, die ganze Woche wurde viel über die neue Nationalmannschaft gesprochen. Fühlen Sie sich nach der zweiten Nominierung noch als Frischling oder sind Sie als viertältester schon ein Platzhirsch?
Marcel Halstenberg: Ich muss gestehen, dass ich bei der Kaderbekanntgabe mal die Geburtsdaten aller Spieler verglichen habe und mich fast erschrocken habe, wie wenig Spieler tatsächlich noch älter sind als ich. Bei den Feldspielern sind das nur Marco Reus und Ilkay Gündogan. So gesehen bin ich wahrscheinlich der älteste Frischling aller Zeiten (lacht).
Tornetze müssen Sie aber nicht schleppen, oder?
Halstenberg: Wenn es etwas anzupacken gibt, dann helfe ich mit. Das hat für mich mehr mit Teamgeist als ausschließlich mit dem reinen Alter zu tun. Die Abläufe bei der Nationalmannschaft sind sehr professionell. Als Spieler können wir uns voll und ganz auf unsere Leistung konzentrieren. Abseits des Platzes merke ich manchmal schon, dass ich e-her zu den etwas Älteren gehöre.
Wie das?
Halstenberg: Wenn zum Abschalten gemeinsam mal an der Playstation gespielt wird, reizt mich das nicht so sehr. Die ganze Altersgeschichte würde ich ohnehin nicht allzu hoch hängen. Ich bin jetzt 27 Jahre, das ist ein top Alter im Fußball. Wir sind hier alle auf einer Wellenlänge.
Sie haben mit Sicherheit den ungewöhnlichsten Karriereweg aller Nationalspieler. Stimmt es eigentlich, dass Sie selbst gar nicht mehr so richtig mit einer Nationalmannschaftskarriere gerechnet haben?
Halstenberg: Naja, ich spielte ja noch vor drei Jahren in der Zweiten Liga beim FC St. Pauli. Da wäre es ziemlich vermessen gewesen, wenn ich da etwas von einer großen Nationalmannschaftskarriere gefaselt hätte. Mein großes Ziel war zu dem Zeitpunkt die Bundesliga, nicht die Nationalelf.
Geschafft haben Sie dann ja beides, bis…
Halstenberg: …bis ich dann durch meinen Kreuzbandriss extrem zurück geworfen wurde. Passiert ist es in Leipzig beim Training. Dann macht man ein MRT und der Arzt sagt plötzlich: Kreuzbandriss. Da muss man sich erst einmal schütteln.
Durch den Kreuzbandriss haben Sie auch die WM verpasst.
Halstenberg: Ja, ich saß mit meiner Frau in Regensburg, wo ich meine Reha absolviert habe, und schaute mir die Weltmeisterschaft als Fan im Fernsehen an. Das frühe Aus in der Vorrunde hat dann die ganze Geschichte nicht unbedingt besser gemacht, da leidet man schon sehr mit den Jungs.
War Ihnen nach der Niederlage gegen Südkorea direkt klar, was diese Pleite für Folgen haben wird?
Halstenberg: Im ersten Moment war ich wie jeder andere Fan erst einmal nur traurig. Irgendwann wurde dann aber schon klar, dass es wohl einen Umbruch nach der WM geben würde. Und nun sind wir mittendrin in diesem Neuaufbau. Ich sehe das als Chance für unsere Mannschaft.
Wie haben Sie vor zwei Wochen von der Entscheidung erfahren, dass der Bundestrainer zukünftig nicht mehr auf Mats Hummels, Jerome Boateng und Thomas Müller setzen will?
Halstenberg: Ich habe das auf meiner Kicker-App gelesen und war wahrscheinlich genauso überrascht wie viele andere in Deutschland. Bundestrainer Joachim Löw hat eine sportliche Entscheidung getroffen. Irgendwann müssen die Alten für die Jungen Platz machen – auch wenn das jetzt hart klingen mag. Ich bin mir aber sicher, dass wir gute, junge Spieler haben. Und ich hoffe, dass wir das auch in den nächsten Spielen zeigen können.
Gegen Serbien waren Ihr Vater, Ihr Bruder und mehr als zehn Freunde von Ihnen in Wolfsburg im Stadion. Kommt die ganze Sippe auch nach Amsterdam?
Halstenberg: (lacht) Nein, das Spiel gegen die Niederlande am Sonntag beginnt erst 20.45 Uhr. Meine Freunde müssen dann alle wieder am frühen Montag arbeiten. Aber einen schönen Fernsehabend werden sich meine Kumpels und meine Familie mit Sicherheit machen.
Ist ein Spiel gegen Holland heutzutage noch etwas Besonderes?
Halstenberg: Natürlich. Auf solche Duelle freut man sich als Fußballer. Deutschland gegen die Niederlande – viel mehr geht doch nicht. Und man muss auch anerkennend festhalten, dass die Holländer nach ihrem Tiefpunkt mit den zwei verpassten Turnieren einen verdammt guten Job gemacht haben. Sie haben mittlerweile wieder ein richtig gutes Team.
Kann man von den Niederlanden lernen?
Halstenberg: Das sollte man sogar. Ich bin mir sicher, dass es extrem schwer ist, nach zwei verpassten Turnieren einen Neuaufbau zu starten. Aber die Niederlande haben das geschafft. Sie haben einiges geändert und sehr stark auf die junge Generation gesetzt. Und nun wurden sie belohnt. Ich denke, dass die Favoritenrolle in diesem Spiel sogar 51 zu 49 Prozent bei den Holländern liegt. Man muss ja nur mal zu Ajax Amsterdam schauen, was da gerade los ist…
Haben Sie Amsterdams Überraschungssieg gegen Real Madrid im Fernsehen gesehen?
Halstenberg: Ich habe die Zusammenfassung gesehen. Wahnsinns-Tore. Und wirklich sehr beeindruckend, wie selbstbewusst Ajax gegen den haushohen Favoriten Real aufgetreten ist.
International scheint Deutschland gerade ein wenig der Musik hinterherzulaufen.
Halstenberg:Es scheint im Moment tatsächlich so, dass im Clubfußball die eine oder andere Nation uns überholt hat. Ziemlich beeindruckend sind die Engländer, die mit vier Mannschaften im Champions-League-Viertelfinale stehen. Das muss das Vorbild sein. Wobei mich auch Eintracht Frankfurt in der Europa League beeindruckt hat. Die Frankfurter haben gezeigt, dass man auch in kurzer Zeit den Turnaround schaffen kann, nachdem sie nicht allzu gut in die Saison kamen.
Die Favoritenrolle in der Bundesliga wechselt derzeit von Woche zu Woche. Darf man als Leipziger und Ex-Dortmunder dem BVB gegen Bayern die Daumen drücken?
Halstenberg: Zunächst drücke ich uns Leipzigern die Daumen (lacht). Aber davon un-abhängig darf ich natürlich zugeben, dass ich von klein auf immer großer Dortmund-Fan war. Mein Bruder auch. Wir haben echt viele Spiele im Stadion gesehen. Dass ich mal für den BVB gespielt habe, war eine besondere Station in meiner Karriere. Da ist natürlich eine besondere Beziehung hängengeblieben.
Das Herz sagt das eine, was sagt der Kopf?
Halstenberg: Schwierig. Die Bayern können sich nach dem Champions-League-Aus wieder voll auf die Liga konzentrieren – und das machen sie ja auch sehr eindrucksvoll. Ich denke schon, dass die Bayern derzeit die Nase vorne haben. Aber sehr gerne dürfen die Dortmunder mich Lügen strafen.
In Dortmund wurden Sie erst spät zum Linksverteidiger umgeschult.
Halstenberg: Genau. Ich war ja eigentlich Innenverteidiger. David Wagner war dann mein Trainer und hat gesagt, dass ich mich mal ein paar Spiele als Linksverteidiger versuchen soll. Ich wollte das eigentlich überhaupt nicht. Als Außenverteidiger muss man die Linie ja immer hoch und runter laufen. Das war damals zunächst nicht meine Idealvorstellung von Fußball.
Aber?
Halstenberg: Irgendwie hat mich David Wagner dann doch überzeugt. Und fünf Spiele spä-ter, als er mich dann wieder zurück in die Innenverteidigung beordern wollte, konnte ich mir gar nichts anderes mehr vorstellen als Linksverteidiger. Das habe ich unserem Trainer dann auch gesagt. Und ab dem Moment war ich Linksverteidiger – zunächst bei Dortmunds U23, dann beim FC St. Pauli in der Zweiten Liga.
Haben Sie zum Kiezclub noch Kontakt?
Halstenberg: Klar. Besonders mit Christopher Buchtmann. Wir haben schon in der F-Jugend bei Hannover 96 zusammen gespielt. Auch unsere Eltern kennen sich gut.
Hat Ihr St.-Pauli-Herz beim Derby geblutet?
Halstenberg: Und wie. Wir hatten in Leipzig Training, so dass ich mir das Spiel erst ab der 20. Minute angucken konnte. Und das hat dann echt weh getan. Bis zum Derby sah es bei St. Pauli ja gut aus, aber die letzten beiden Spiele waren sehr bitter.
Was wird früher passieren: St. Pauli steigt auf oder Leipzig wird Meister?
Halstenberg: Am schönsten wäre, wenn Beides passiert (lacht).