Budapest. Lothar Matthäus hält Joachim Löw für einen Glücksfall für den deutschen Fußball. Bei der EM in Frankreich rechnet er mit einem Durchstarter aus Schalke. Das große Interview.

So ganz kann Lothar Matthäus Italien auch in Ungarn nicht hinter sich lassen. Das Land, in dem Deutschlands Fußball-Rekordnationalspieler 1990 Weltmeister wurde und ein Jahr später als Star von Inter Mailand zum Weltfußballer aufstieg. Der 55-Jährige lädt in seiner neuen Heimat Budapest zum Gespräch in eine Trattoria ein. Über Fußball reden wir, selbstverständlich, der Sky-Experte ist ja auch während der EM in Frankreich für mehrere Medien als Fachmann unterwegs. Dabei hätten ihn viele auch mal als Trainer einer Mannschaft bei so einem Turnier gesehen.

Herr Matthäus, Sie machen einen sehr entspannten Eindruck. Nach einer langen Fußball-Weltreise: Sind Sie als Mensch endgültig in Budapest angekommen?

Lothar Matthäus: Budapest ist eine tolle Stadt, es ist eine Wohlfühloase für mich.

Popularität zieht automatisch Kameras an. Haben Sie hier mehr Momente für sich?

Matthäus: Es ist wie eine Insel, auf der du deine Ruhe hast. Wo du wie Ottonormalverbraucher mit der Frau, der Familie und Freunden auf der Straße spazieren gehen kannst. Diese Privatsphäre genieße ich sehr. Das ginge in Deutschland oder Italien sicherlich weniger. Die Menschen in Ungarn haben eine andere Mentalität. Sie haben viel mit sich selbst zu tun, deshalb denken sie womöglich auch: Wir wollen in Ruhe gelassen werden, als gestehen wir das auch anderen zu. Ich kann mich nicht erinnern, in Ungarn schräg angequatscht worden zu sein, wie es in Deutschland tagtäglich vorkommt. Hier ist unser Zuhause, hier fühlen wir uns wohl.

Kommt das Ihrer Vorstellung von vollkommenem Lebensglück nahe?

Matthäus: Mich zwingt ja niemand, hier zu leben. Das könnte ich auch in München, in Italien, in Dubai oder in Moskau. Aber hier stimmt das Gesamtpaket am besten. Wir haben einen zweijährigen Sohn, da ist es besonders schön, über die Straße gehen zu können, ohne von Paparazzi verfolgt zu werden.

Und beruflich lässt sich von Budapest ja auch alles managen.

Matthäus: Man hat ja gute Verbindungen nach München, um von dort aus in die ganze Welt zu kommen. Ich reise durch meine Tätigkeiten für Sky sehr viel, sitze quasi immer noch auf gepackten Koffern. Andererseits fühlen wir uns an den Tagen, an denen wir hier sind, so privat, wie ich es in meinem Leben zuvor noch nie empfunden habe.

Ihre letzte Trainerstation war 2011 in Bulgarien, als TV-Experte sind Sie dagegen ganz dick im Geschäft.

Matthäus: Ich denke ja auch gar nicht mehr daran, ins Tagesgeschäft des Trainers einzusteigen. Mir liegt die Lebensqualität, die mir gerade beschert wird: Zeit für die Familie und mich zu haben, nicht mehr dem Druck ausgesetzt zu sein und von morgens bis abends an Fußball zu denken. Ich bin trotzdem nah an allem dabei, ich kenne alles, ich weiß alles – ob es Champions League ist oder sämtliche Ligen. Ich verfolge das allein schon, weil es mich interessiert. Ich habe ja in vielen Ländern gearbeitet.

Was macht einen guten Trainer aus? Nur Titel?

Matthäus: Es ist natürlich einfacher, Erfolge mit einer Mannschaft wie Bayern München zu feiern. Das muss man sich erarbeiten, braucht aber vielleicht auch am Anfang der Karriere das Quäntchen Glück. Pep Guardiola hat von Barcelona das Vertrauen bekommen, sicher auch seinen Teil dazu beigetragen, aber auch die Spieler gehabt, um Erfolge zu feiern. Nach so einem Einstieg ist es natürlich einfacher, Topvereine zu trainieren. Da gibt es ganz oben eine Kategorie, aber eben auch eine Kategorie tiefer. In der Bundesliga sind in den letzten Jahren viele neue Leute hinzugekommen. Früher gab es jahrelang 25 Trainer bei 18 Vereinen - man ist mal vom Karussell heruntergefallen und wenig später wieder aufgestiegen.

Ist Joachim Löw automatisch durch den WM-Titel 2014 ein sehr guter Trainer?

Matthäus: Dass Joachim Löw das ist, hat er auch schon vorher gezeigt. Er hat mit seinen Klubs Meisterschaften geholt, auch wenn es in Österreich und der Türkei war. Er war dann halt zum richtigen Zeitpunkt da, als Jürgen Klinsmann einen Trainer gesucht hat für die Nationalmannschaft. Aber ohne Klinsmann wäre vielleicht auch niemand beim DFB darauf gekommen, Löw als Bundestrainer einzustellen. Er hat sich für eine andere Schiene als die entschieden, die damals befahren wurde. Ich kenne Jogi seit 35 Jahren, er war ein technisch guter Spieler, und diesen Fußball lässt er auch spielen. Er hat natürlich auch das nötige Glück, dass sich die Arbeit der in den letzten zehn, fünfzehn Jahren angestoßenen Nachwuchsprojekte jetzt auszahlt.

Er hat sich entschieden, nach Brasilien weiterzumachen. Dabei heißt es doch, wenn’s am schönsten ist, soll man aufhören…

Matthäus: Aber wenn ein Trainer mit 35 das erste Mal Weltmeister wird, hört der ja auch nicht auf. Davon halte ich nichts, man steckt sich halt neue Ziele. Man sollte aufhören, wenn man bereit ist, loszulassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jogi Löw noch wie Giovanni Trapattoni mit 75 Jahren auf der Trainerbank sitzt. Aber ich glaube, Löw hat noch einiges vor, hat Spaß mit dieser Mannschaft und kann die Spieler auch immer weiter entwickeln. Solange er Lust hat, gibt’s in Deutschland, gerade weil das Vertrauen der Mannschaft in ihn sehr groß ist, keinen Besseren. Man kann nicht erwarten, dass er die nächsten Turniere alle gewinnt, aber deswegen ist es noch lange kein Rückschritt. Die Konkurrenz anderer Nationalmannschaften ist groß.

Kann Bastian Schweinsteiger die Mannschaft noch einmal wie vor zwei Jahren in Brasilien zum Titel führen?

Matthäus: Erstmal muss er dafür wieder richtig fit werden, wenn auch nicht gleich fürs erste Spiel. Joachim Löw hat sich das genau überlegt, weil er eben diese Hoffnung hat, dass Schweinsteiger während des Turniers in eine Form kommt, in der er der Mannschaft helfen kann. Als Persönlichkeit tut er das ohnehin schon. Wenn dann noch einmal die gleiche Geschichte dabei herauskommt wie in Brasilien, kann man Löw und Schweinsteiger nur gratulieren.

So denkt Matthäus über Marco Reus und Leroy Sané

Sehr bitter ist das EM-Aus für Marco Reus – recht recht vor dem Hintergrund seiner gesamten Karriere, in der er noch keinen Titel gewonnen hat.

Matthäus: Marco Reus ist in seiner Entwicklung leider stehengeblieben. Als er vor drei Jahren zu Borussia Dortmund gewechselt ist, war da eine Leichtigkeit, eine Frische und Lust zu erkennen. Mittlerweile sehe ich diese nicht mehr. Ausbleibende Titel und die vielen Verletzungen spielen dabei natürlich eine Rolle. Es ist klar, dass er viel nachdenkt - vielleicht nimmt ihm das die Stärke, um die richtigen Leistungen zu bringen. Marco ist in Dortmund gut aufgehoben, aber für einen Spieler wie ihn kann es nicht zufriedenstellend sein, keinen Titel geholt zu haben und bei jedem großen Turnier verletzt zu sein.

Wer im deutschen Team hat das Zeug zur großen Überraschung?

Matthäus: Jogi Löw vertraut auf seine Leute, die ihn seit Jahren unterstützen. Das hat man jetzt auch bei der Nominierung wieder gesehen. Die ist in Ordnung.

Aber?

Matthäus: Wenn man genauer hinschaut, muss man fragen: Was ist im letzten halben Jahr an Leistung passiert? Wer hat sie gebracht, und wer nicht? Wenn ich sehe, was ein Julian Brandt gezeigt hat in den letzten drei, vier Monaten und dann auf der gleichen Position andere mehrere Nominierte…

Mario Götze?

Matthäus: Nein, gar nicht mal Mario, den sehe ich sowieso eher in der Mitte als auf den Außen, denn dafür bringt er gar nicht die Geschwindigkeit mit. Ich meine bezüglich Brandt eher die beiden Wolfsburger Schürrle und Draxler und Podolski. Sie sind mir in den letzten Monaten nicht so sehr aufgefallen. Ich weiß nicht, was Dortmund und Leverkusen falsch gemacht haben, weil sie in Leno und Weigl jeweils nur einen EM-Fahrer haben, wenn man mal den künftigen Münchner Mats Hummels außen vor lässt.

Herzlich wenige EM-Teilnehmer für den Zweiten und Dritten der Bundesliga.

Matthäus: Löw eben einen gewissen Hang zu Spielern, die ihm schon lange Folge leisten. Deswegen wird es für Julian Weigl auch wahrscheinlich schwierig, an Toni Kroos, Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira vorbeizukommen.

Was halten Sie von Leroy Sané?

Matthäus: Ihm gehört genauso wie Brandt die Zukunft auf der Außenposition. Wenn ihre beiden Karrieren so weitergehen wie in den letzten zwölf Monaten, brauchen wir keine Angst zu haben für die Nationalmannschaft. Sané ist einzigartig in der Geschwindigkeit, hat Gefühl für den Ball und arbeitet auch jetzt schon relativ gut mit nach hinten. Sollte der Bundestrainer Thomas Müller nicht rechts spielen lassen, könnte Sané die Lücke schließen, denn alle anderen Konkurrenten sind entweder nicht dabei oder spielen links. Wenn er das Vertrauen bekommt, kann er eine gute Rolle spielen.

Lothar Matthäus über die Folgen der verpatzten EM 2000

Sie hatten Ihre großen Auftritte eher bei Welt- als bei Europameisterschaften.

Matthäus: Die EMs sind sicher nicht so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt habe. Ich möchte sie trotzdem nicht aus dem Gedächtnis streichen.

Hatte speziell die EM 2000, als das Aus bereits in der Vorrunde kam, Auswirkung auf Ihre bevorstehende Trainerkarriere?

Matthäus: Kann ich mir nicht vorstellen. Was hat eine nicht erfolgreiche EM mit einer möglichen Trainerkarriere zu tun?

Bundestrainer Erich Ribbeck hatte Sie von einer Teilnahme noch einmal überzeugt, waren direkt beteiligt. Letztlich wären Sie aufgrund Ihrer Vita als Rekordnationalspieler eher als Rudi Völler prädestiniert gewesen, nach dem Ribbeck-Aus und der Affäre um Christoph Daum Bundestrainer zu werden.

Matthäus: Ich stand noch in New York unter Vertrag, war vielleicht auch noch zu nah an der Mannschaft. Rudi hatte schon vorher aufgehört. Als er vier Jahre später sein Amt abgegeben hat, ist Franz Beckenbauer auf mich zugekommen. Aber dann hat man sich für Jürgen Klinsmann entschieden. Was in Ordnung ist. Wenn 2004 der gesamte DFB hinter mir gestanden hätte, wäre es sicherlich interessant geworden. Aber auch so hat alles zu der Zeit, als ich als Trainer mit Belgrad Champions League gespielt habe und dann nach Ungarn gegangen bin, alles gepasst.

Haben es Weltstars generell schwieriger, Trainer zu werden?

Matthäus: Das kommt ganz darauf an, wie man damit umgeht. Als vor sechs Monaten Zinedine Zidane Trainer geworden ist in Madrid, haben erfolgreiche Trainer aus Deutschland erklärt: Wie kann man nur, das ist doch zu viel Druck, der hat doch nicht die Erfahrung. Ich habe gesagt: Das ist der Glücksgriff für Real Madrid. Es kommt ja darauf an, wie dieser ehemals erfolgreiche Star vom Verein unterstützt und von seinen Spielern gesehen wird. Man muss auch da fair sein und kann an einen Trainer, der einen Namen hat, keine utopischen Forderungen stellen. Vielleicht ist das ab und zu ein Problem, dass von einem Trainer das gleiche erwartet wird, was er als Spieler erreicht hat.

Was unmöglich ist.

Matthäus: In Belgrad konnte niemand von uns erwarten, Champions-League-Sieger zu werden – die Saison mit mir als Trainer war aber die einzige, in der der serbische Fußball dort vertreten war. Genauso wusste ich, dass wir in Ungarn mit einer im Schnitt 23 Jahre alten Mannschaft gegen Deutschland, Spanien und Brasilien keine Chance haben würde. Aber in Deutschland sucht man dann die schlechten Dinge raus und sagt: Die Bilanz ist knapp positiv oder nur ausgeglichen. Dabei konnte man die Voraussetzungen gar nicht miteinander vergleichen.

Wurde Ihre Arbeit nicht entsprechend gewürdigt?

Matthäus: In dem Fall hat der deutsche Journalist über etwas geschrieben, bei dem er sich überhaupt nicht auskannte. Der war nie hier, beobachtete nur mit dem Fernrohr, das noch nicht einmal bis nach Ungarn reichte. Bei einer Niederlage wurde dann immer gleich draufgehauen. Dirk Schuster hat in Darmstadt eine Riesenarbeit abgeliefert, die wird gewürdigt, weil man sie Woche für Woche in Deutschland sieht – aber Meister ist er auch nicht geworden, sondern nur nicht abgestiegen. Ich kann damit leben, weil die Leute aus meinem Arbeitsumfeld einschätzen konnten, was erreichbar war und was nicht. In meinem Journalismus, den ich betreibe, bringe ich nur das herüber, was ich auch vertreten kann. Denn ich würde mir schlecht vorkommen, etwas über jemanden zu sagen, das absolut nicht stimmt oder ich nicht beurteilen kann. Nur wer mich ständig begleitet hat, kann beurteilen, ob Lothar Matthäus ein guter oder schlechter Trainer ist.

Kommen wir noch einmal auf Ihre Rolle als Experte zurück. Glauben Sie an den EM-Titel für das Löw-Team?

Matthäus: Ja, denn es ist mit die beste Mannschaft.

Wer sind die Konkurrenten?

Matthäus: Auf jeden Fall Frankreich, vielleicht auch England. Und die Belgier schätze ist stark an. Dazu wird es noch die ein oder andere Überraschung geben, Österreich zum Beispiel.

Sie haben Spanien vergessen.

Matthäus: Nein, denn ich glaube nicht, dass Spanien Europameister werden kann. Dafür ist die Mannschaft mittlerweile zu alt. Früher haben sechs Spiele zum Titel gereicht – jetzt muss man aber sieben Spiele auf höchstem Niveau durchstehen.