Santo André. Spätestens beim 7:1-Erfolg gegen Brasilien war klar zu erkennen, warum sich das Warten auf Sami Khedira gelohnt hat. Das Warten auf das Ende seiner Leidenszeit, die erst vor gut einem halben Jahr mit seinem Kreuzbandriss begann. Nun ist er zurück. Mit unbändigem Willen. Und einem klaren Ziel.
Sami Khedira hat wenig geschlafen. Das ist nicht schlimm, denn die schlaflosen Stunden rühren vom unfassbaren Halbfinalsieg gegen Brasilien. Man sieht ihm die durchwachte Nacht ohnehin kaum an: Die langen schwarzen Haare hat er so gut es geht hinter die Ohren geklemmt, dicht ist der Bart in seinem Gesicht, entschlossen der Blick. Er steht im Campo Bahia, dem Quartier der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, und redet vom nahenden WM-Finale, an dem er teilnehmen wird. Das klingt nicht gerade wie eine Sensation, aber eigentlich ist es eine.
Denn dieses Szenario schien vor sieben Monaten ausgeschlossen zu sein. Khedira lag auf dem Rasen von Mailand, vergrub das Gesicht in den Halmen, winkte mit der linken Hand nach medizinischer Hilfe, hielt sich mit der rechten das Knie. In diesem Moment – das stellte sich etwas später heraus - war im Testspiel gegen Italien soeben eines seiner Kreuzbänder gerissen. Seine Hoffnungen auf das WM-Turnier waren Richtung null gesunken, die Fußball-Nation war entsetzt. Sechs Monate werden für die Ausheilung dieser wohl schlimmsten aller Fußballer-Verletzungen normalerweise veranschlagt. Richtig fit ist man dann noch nicht. Geschweige denn in einer Form, die für eine WM ausreicht.
Khediras Stärke: Unbändiger Wille
Aber Khedira ist da, er hat gespielt, sogar sehr gut. Gegen Brasilien lieferte er die letzte Begründung, warum Bundestrainer Joachim Löw für ihn seine Prinzipien aufgeweicht hatte und ihn für dieses Turnier nominierte, obwohl dem 26-Jährigen die körperliche Konstitution zunächst augenscheinlich fehlte. Aber Löw setzte auf ihn, weil er ein Kämpfer ist, weil er die Mannschaft anführen kann, weil er mit seinem unbändigen Willen und seiner kaum zu erschütternden Überzeugung wichtig ist. An guten Tagen walzt er durch das Mittelfeld, reißt Löcher in die Reihen des Gegners und gewinnt die entscheidenden Zweikämpfe. Dienstagabend in Belo Horizonte war ein guter Tag. Khedira spielte beeindruckend, traf einmal, bereitete ein Tor vor.
„Das war ein historischer Sieg“, sagt der Mann, der für die erhabenste Marke des Weltfußballs spielt: Real Madrid. Das kostbare Ensemble ist mit Stars gespickt und gewann im Mai die Champions League. Khedira – damals frisch genesen, ohne Wettkampfpraxis - spielte von Beginn an, weil sie ihn auch dort brauchen, weil sie selbst unter der teuersten Anhäufung von Weltklassespielern keinen Besseren finden konnten als den Deutsch-Tunesier. „Jeder Fan darf das jetzt genießen und feiern“, sagt der sonst während des Turniers schweigsame Khedira nun, „aber wir haben diese Berechtigung nicht.“
So ist Khedira, er verbietet sich und den anderen irgendeinen Anflug von Euphorie, solange nicht der maximale Erfolg eingefahren ist. „Wenn wir das Finale verlieren sollten, dann war alles umsonst, dann stehen wir wieder mit leeren Händen da.“ Das hasst er nach all den schönen, aber titellosen Jahren im Nationaltrikot. Da ist er erbarmungslos. Gegen andere. Gegen sich.
Videobotschaften an den Bundestrainer
Auch interessant
Mühsam kämpfte er sich in den vergangenen Monaten zurück, erst Reha, dann Muskelaufbau, dann Zweikampfsequenzen wie eine Art Sparring. Videosequenzen schickte er dem Bundestrainer, um zu beweisen, dass mit ihm zu rechnen sein wird bei der WM. „Ich bin ruhig geblieben“, sagt er, „ich wusste, dass ich auf einem guten Weg bin.“ Er erzählt, dass der Kontakt zum nationalen Trainerteam in der Zeit immer eng war, dass er ihnen sagte, „dass sie mir vertrauen können, dass ich sie nicht anlüge, nur um eine WM zu spielen. Ich bin froh, dass ich mich jetzt dafür belohnen kann und eine großartige Saison vielleicht krönen kann.“
Nur ein Schritt ist es noch. Er kann in Rio de Janeiro im Finale vollzogen werden. Khedira wäre plötzlich Weltmeister und Champions-League-Sieger. Der König des Fußballs – und das aus dem Krankenstand heraus. Dann würde selbst Sami Khedira sich erlauben, zu feiern. Und mal wieder wenig zu schlafen.