Frankfurt.. Fast 25 Minuten dauert die Rede, die der Mann hält, der „selbstverständlich die Verantwortung“ für das Scheitern an der Realisierung des großen Traumes vom EM-Titel übernimmt. Bundestrainer Joachim Löw versucht sich in der Rolle des Turms in einer drakonischen Abwehrschlacht.

Die Spielphilosophie von Joachim Löw sieht den Befreiungsschlag eigentlich nur als letztes Mittel im Gefecht mit einem dramatisch anrennenden Gegner vor. Nichts geht mehr, irgendwie weg mit dem Ball, nur irgendwie raus aus der Gefahrenzone! Wer als Schüler dieses Bundestrainers zu früh auf die brachiale Methode der Schadensbegrenzung auf dem Rasen zurückgriff, der konnte bisher davon ausgehen, deutlich auf sein Fehlverhalten hingewiesen zu werden. Nach der Europameisterschaft, nach dem Halbfinal-Aus gegen Italien, aber ist alles anders. Löw versucht sich jetzt selbst in der Rolle des Turms in einer drakonischen Abwehrschlacht, gefochten mit erhobener Stimme und geröteten Wangen.

Montag. 12.30 Uhr. Frankfurt. Der Himmel über der Arena, in der am Mittwochabend das erste Länderspiel nach der EM, die Freundschaftspartie gegen Argentinien stattfinden wird, strahlt in einem unschuldigen Blau. Diesem Himmel jedoch sollte man lieber nicht trauen. Es ist frostig geworden, zumindest im Verhältnis zwischen dem gern und häufig „Der nette Herr Löw“ genannten Bundestrainer und den deutschen Journalisten.

Fast 25 Minuten dauert die Rede, die der Mann hält, der „selbstverständlich die Verantwortung“ für das Scheitern an der Realisierung des großen Traumes vom EM-Titel übernimmt. Und in dieser fast 25-minütigen Rede arbeitet Löw konsequent quälerisch und selbstquälerisch all das heraus, was ihm im publizistischen Umgang mit dem Scheitern und den Gescheiterten übel aufgestoßen ist.

Stenger stellt die erste Frage

Die Frage, die den Bundestrainer in diesen tosenden Wasserfall verwandelte, hatte nicht einmal ein Journalist gestellt, sondern Harald Stenger, der Sprecher der Nationalmannschaft, dessen Vertrag vom Deutschen Fußball-Bund nicht erneuert wird. Es war die erste Frage, und es war eine Frage, unschuldig wie das Himmelsblau.

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Löw aber müssen im langen Urlaub schwarze Gedanken kreuz und quer durch den Kopf geschossen sein. War nach der Niederlage gegen Italien nicht eine Leitwolfdiskussion entbrannt? War nicht anklägerisch gerufen worden: Die Spieler sind zu verwöhnt!? War nicht in atemloser Aufgeregtheit darüber debattiert worden, dass Nationalspieler, vor allem Nationalspieler mit Migrationshintergrund, auf das Mitsingen der Hymne Deutschlands verzichtet hatten?

Bissige Vergangenheitsbewältigung

Und, ja, richtig: Wenn die Erinnerung nicht trügt, wurde all das hier und da thematisiert. Bass Erstaunen machte es dennoch, dass Löw sich wild dazu gedrängt fühlte, bei seinem ersten Auftritt vor Journalisten nach dem Abschied aus Polen so bissig Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. Stichwort: Leitwolf. „Viele Mannschaften mit ihren klassischen Führungsspielern sind vor uns nach Hause gefahren.“ Stichwort: verwöhnte Spieler. „Auch die Spanier haben einen Koch und fahren nicht nur mit dem Bus.“

Stichwort: Hymne. „Das ist doch kein Beweis für ihre Unlust, zu kämpfen.“ Widerspruch hörte der Bundestrainer keinen. Und das lag nicht allein daran, dass tosende Wasserfälle sich schwer stauen lassen. Es lag auch daran, dass eben nur hier und da in einer herbstlaubbunten Medienlandschaft die Auseinandersetzungen mit dem Geschehenen in Richtungen gedriftet waren, die Löws Missfallen erregen mussten.

Löw hat sich den Schuh angezogen

Über den Stand der Dinge für den über Jahre hinweg mit Lob überschütteten Bundestrainer teilen die vereinzelten Post-EM-Attacken allerdings wenig mit. Und die Kritik an seinen taktischen Vorgaben heftet der Chefstratege nach eigener Aussage in dem Ordner mit der Aufschrift „Sportliche Kritik“ ein, in dem Ordner, in dem gesammelt wird, worüber man im Führungskreis der Nationalelf in Zukunft sogar einmal nachdenken möchte. Warum also dieses Gebolze ohne Spielkultur, ohne einen Blick für Freund oder Feind?

Weil Löw sich in die Rolle des Turmes in einer Abwehrschlacht hineingefühlt hat. Weil er sich den Schuh angezogen hat. Stengers Vertragslaufzeit wird nicht ausgedehnt? Im Juli 2010, nach der gefeierten Performance bei der WM, wollte der DFB den damaligen Mediendirektor auch schon aus der Nationalmannschafts-Crew herausreißen.

Aber der Bundestrainer beschied souverän: nicht ohne meinen Harald. Nach der EM 2012 jedoch ist eben wirklich alles anders. Vor einer Woche bereits hat Löw dem neuen DFB-Präsidenten eine Analyse der Sommerereignisse präsentiert, so, wie er es stets zu tun pflegt nach Turnieren. Wolfgang Niersbach ließ daraufhin veröffentlichen, dass er voll hinter diesem Bundestrainer stehe. Was bedeutet: Ein Souverän bist du nicht mehr, Jogi.