Olympische Spiele 1972 in München: Der Schifferstädter Ringer Wilfried Dietrich lässt den 200 Kilo schweren Chris Taylor fliegen. Eine Kolumne
Man hatte mich vor ihm gewarnt. Er sei schwer zugänglich, hieß es. Und Reporter habe er so gerne wie Zahnschmerzen. Aber bitte: Warum hätte mich das abhalten sollen damals im Jahr 1986, als der KSV Witten gegen den VfK Schifferstadt in Speyer Deutscher Mannschaftsmeister im Ringen wurde. Ich war Lokalsportredakteur in Witten, nach dem Kampf sah ich Wilfried Dietrich vor der Halle. Der legendäre „Kran von Schifferstadt“ hatte seine Nachfolger begutachtet.
Ich bat ihn um ein Urteil zum Finalkampf, und alle Warnungen erwiesen sich als überflüssig: Der vermeintlich so mürrische Mann war auskunftsfreudig und offen. Er küsste seine Fingerspitzen, als er von einem Überwurf des Witteners Karl-Heinz Helbing schwärmte – der übrigens 1976 in Montreal Olympia-Bronze geholt hatte.
Wilfried Dietrich hatte sich bereits 1960 in Rom mit Gold dekoriert
Wilfried Dietrich hatte bereits 1960 in Rom Gold gewonnen. Bei seinen letzten Olympischen Spielen 1972 in München blieb er zwar ohne Medaille, doch dort gelang dem damals schon fast 40-Jährigen ein Überwurf, der in die Sportgeschichte einging.
Superschwergewicht, griechisch-römischer Stil, zweite Runde: Dietrich stand dem knapp 200 Kilo schweren Amerikaner Chris Taylor gegenüber, neben diesem Brocken wirkte das etwa halb so schwere deutsche Kraftpaket geradezu schmächtig. Schon nach wenigen Sekunden aber überraschte Dietrich seinen Gegner mit einer sensationellen Attacke: Er umfasste Taylor, schaffte es, zwei Finger hinter dessen Rücken zu verhaken. Dann riss er ihn hoch, beugte sich rückwärts und warf den verdutzten Koloss über sich hinweg. Schultersieg.
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Das Bild vom „Jahrhundertwurf“ ging um die Welt. Dietrich mit weit aufgerissenen Augen, Taylor über ihm, völlig hilflos. Eine Sternstunde des Ringens, ein unvergessener olympischer Augenblick.
Wilfried Dietrich starb 1992 im Alter von nur 58 Jahren in Südafrika. Bei unserem kurzen Interview sechs Jahre zuvor hatte ich ihn mir genau angeschaut: Wie hatte dieser Mann das bloß geschafft? Eine faszinierende Frage, auf ewig.