London. Nur denkbar knapp ist Spanien im EM-Halbfinale an Italien gescheitert. Warum die Leistung beim Turnier trotzdem Hoffnung machen darf.
Sergio Busquets ging als einer der letzten, noch eine freundliche Umarmung mit dem italienischen Elfmeterhelden Donnarumma und ein paar Küsschen für die Haupttribüne. Dann verschwand er. Sollte es das gewesen sein? Spaniens überragender Stratege hat noch nicht erklärt, ob er seine Auswahlkarriere fortsetzen wird. „Ich weiß es nicht“, sagte er nach dem unglücklichen Elfmeteraus gegen Italien, und dass es jetzt erst mal nicht um ihn gehe, sondern darum, stolz auf diese Mannschaft zu sein.
In der Tat erbrachte eine überwiegend junge Elf mit einem exzellenten Vortrag den Beweis, dass sich Spanien wieder den Höhen nähert, aus denen es nach drei Titeln zwischen 2008 und 2012 so jäh abgestürzt war. Seither war spätestens im Achtelfinale Schluss gewesen, nun also immerhin mal wieder ein Halbfinale. Verbandschef Luis Rubiales verkündete: „Nach neun Jahren in der Wüste ist Spanien zurück.“
Sollte es das für ihn gewesen sein, wird Busquets, 32, also zumindest ein halbwegs geregeltes Erbe übergeben. Und man kann sich schon vorstellen, dass Spielertypen wie der „Sechser“ vom FC Barcelona nachwachsen. Rodri etwa von Manchester City, der ihm an guten Tagen schon nahekommt, bei der EM aber keinen davon hatte. Sowieso sind Mittelfeldspieler nie das Problem in Spanien, wie man an Teenager Pedri sieht, dem Shooting Star des Turniers, der von seinem Trainer Luis Enrique mit einem Extralob verabschiedet wurde: „Ist irgendwem aufgefallen, was ein 18-jähriger Junge wie Pedri bei dieser EM gemacht hat? Das habe ich nicht mal bei Iniesta gesehen.“
Spanien fehlte bei der EM ein echter Stürmer
Aber zurück zum Problem. Das heißt in Spanien seit langem: Stürmer. Oder um genauer zu sein, das, was die Engländer als „Finisher“ bezeichnen würden. Stürmer, die einen vernünftigen Prozentsatz von Torchancen verwerten. Oder zumindest aufs Tor bringen, damit vielleicht ein Abfälscher, Abpraller oder sonst etwas passieren kann.
Gegen Italien hatte teilweise kein EM-Niveau, wie harmlos der ansonsten brillante Dani Olmo, Ferran Torres oder insbesondere Mikel Oyarzábal abschlossen. Aber alle drei sind auch eher Flügelspieler als Goalgetter. Ein solcher fehlt Spanien im Prinzip seit den großen Zeiten von David Villa und Fernando Torres. Also seit dem WM-Titel 2010.
2012 wurde noch mal die EM gewonnen, mit dem Konstrukt der „falschen Neun“, für die es damals so hochbegabten Mittelfeldspielerüberschuss wie David Silva oder Cesc Fàbregas gab. Danach begann die glücklose Suche nach einer echten Nummer Neun. Der eigens eingebürgerte Brasilianer Diego Costa kam mit dem spanischen Kurzpassstil nie zurecht. Und Álvaro Morata wechselt nach unerklärlichem Muster heiße und weniger heiße Phasen. Gegen Italien sogar in ein und demselben Spiel.
Trotz Aus: Spanien bekommt viel Lob von den Italienern
Nach seiner Einwechslung vertändelte er unentschlossen seine erste Gelegenheit, konzipierte und vollstreckte dann die wunderbaren Spielzug zum 1:1-Ausgleich nach Doppelpass mit Olmo, um später die Chance zum Siegtor wieder zu verstolpern und im Elfmeterschießen an Donnarumma zu scheitern. Ach, Morata. Als ob seine EM-Achterbahnfahrt nicht schon kurvenreich genug gewesen wäre: anfangs ausgepfiffen vom eigenen Anhang in Sevilla, beförderte er sein Land beim spektakulären 5:3 gegen Kroatien ins Viertelfinale – und war zum Ende also Held und Depp zugleich. Nur dass diesmal keiner gepfiffen hätte, wäre er mit den anderen vor die spanische Fankurve gekommen, statt in Schocktrance gleich die Kabine anzusteuern.
Die spanischen Anhänger waren glücklich mit dem, was sie gesehen hatten, und die sonst so kritischen Medien in der Heimat auch. „Spanien weint mit Würde“, schrieb „Marca“, eine „Niederlage mit Zukunft“ sah „El País“. Systemisch spielte Spanien nahezu perfekt, der Schachzug von Luis Enrique mit quasi drei falschen Neunern zog Italiens Innenverteidiger permanent aus der Position und stellte ihnen die Passwege zu. Durch den Aktionsradius der Angreifer und die hoch aufrückende Abwehrlinie schien Spanien bisweilen mit einem Zehn-Mann-Mittelfeld zu spielen. „Spanien war großartig“, sagte Italiens Veteran Leonardo Bonucci, eine „Riesenmannschaft“ sah Trainer Roberto Mancini. Aber auch bei so einer muss das Runde halt ins Eckige.
Ironischerweise verließen die Spanier das Turnier als bis zu diesem Zeitpunkt treffsicherste Mannschaft mit 13 Toren. Doch zehn davon fielen gegen die harmlose Slowakei und im verrückten Spiel gegen Kroatien. In den anderen vier Spielen – darunter zwei mit Verlängerung – schaffte man nur drei Treffer. Drei Treffer in 420 Minuten. So kann man keine Europameisterschaft gewinnen.