Essen. 2021 war ein schwieriges Jahr für den Sport, 2022 wird mit Winter-Olympia in Peking und Fußball-WM in Katar schlimmer. Und wo bleibt das Positive? Warum trotz der erschütternden Entwicklungen noch Hoffnung bleibt. Für Sportlerinnen, Sportler – und Fans.

2021 neigt sich dem Ende entgegen, es wird ein Strich gezogen unter ein weiteres Corona-Jahr. Auch aus sportlicher Sicht: Was ist passiert, was ist im Gedächtnis geblieben? Warum auch immer, in der Regel bleibt Unangenehmes, Unerfreuliches stärker in Erinnerung. Aber ist denn gerade alles schlecht im Sport? Gibt es nur noch Korruption, Betrug, Wegschauen und Geldgier? Es lohnt sich, einer Frage von Erich Kästner nachzugehen. Der schenkte uns nämlich nicht nur „Das fliegende Klassenzimmer“ sowie „Emil und die Detektive“, sondern auch gesellschafts- und zeitkritische Gedichte.

Eines davon heißt: „Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?“

Die Beantwortung im konkreten Fall ist nicht leicht. Der Sport hat ja nicht erst in den zurückliegenden zwölf Monaten damit begonnen, teilweise seine Ideale zu verraten. Hauptsache, das Geld stimmt.

Das Sportjahr 2021 wurde natürlich von Corona überschattet, wie konnte es auch anders sein? Erst die Fußball-Europameisterschaft im Juni mit zumindest in manchen der zwölf Austragungsländern zu vielen Zuschauerinnen und Zuschauern. Mal mit Abstand, mal ohne Anstand. Dann nur wenige Wochen später die ersten Olympischen Corona-Spiele mit irgendwie zu wenig, nämlich: gar keinem Besuch in den Tokioter Arenen. In Japan stiegen im Sommer zwar die Infektionszahlen, aber die schlimmsten Befürchtungen für das Fünf-Ringe-Spektakel bewahrheiteten sich nicht.

Die chinesische Regierung steht vor Beginn der Winterspiele in Peking wegen des Falls Peng Shuai (links) heftig in der Kritik.
Die chinesische Regierung steht vor Beginn der Winterspiele in Peking wegen des Falls Peng Shuai (links) heftig in der Kritik. © Unbekannt | dpa

„Höher, schneller, weiter, zusammen“

Wenn man so möchte, war dies der größte Sieg von Thomas Bach in diesem Jahr. Der deutsche Präsident und sein Internationales Olympisches Komitee (IOC) hatten sich mit Händen und Füßen gegen die Absage der ohnehin um ein Jahr verschobenen Zusammenkunft der Jugend der Welt gewehrt; zu groß waren die kommerziellen Interessen. Lauter Tests und Maskenpflicht – unter dem extra erweiterten olympischen Motto „Höher, schneller, weiter, zusammen“ traf sich die Sportwelt, um sich beim Kampf um Gold, Silber und Bronze doch bloß nicht zu nahe zu kommen.

Die Pandemie hat Vereine um ihren Fortbestand bangen lassen. Doch sie war nicht das Einzige, das dem Sport Schaden zugefügt hat. Dass gerade Fußballfans die zum Teil moralisch anstößigen Ablöse- und Gehaltssummen, die in diesem Teil der Unterhaltungsbranche überhandnehmen, nicht mehr begreifen können und die Welt der Messis, Ronaldos und Lewandows­kis von ihrer eigenen abgekoppelt sehen, ist längst Alltag. Ermittlungen gegen Profis wegen Steuerhinterziehung tauchen immer wieder auf, ebenso Vorwürfe gegen Klubs, beim Wirtschaften die Grenzen des Erlaubten auszuloten und manchmal auch zu überschreiten. Eine neue Form des Entsetzens in der Sportwelt rief ausgerechnet der nächste Olympia-Gastgeber hervor: China schafft es, die Tennisspielerin Peng Shuai erst zum Schweigen und Abtauchen zu zwingen sowie sie dann nach internationaler Kritik zum Schönwettermachen zu einem zweifelhaften War-doch-alles-nicht-so-gemeint-Interview zu bewegen. Peng Shuai hatte zuvor in einem Internet-Post einen früheren Top-Politiker Chinas des sexuellen Missbrauchs bezichtigt.

Und wo bleibt das Positive?

Wem 2021 schon ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen ist, bekommt gesellschafts- und sportpolitisch betrachtet 2022 das Grauen. Ende des Jahres wird in Katar der Fußball-Weltmeister ermittelt; in einem Land, in dem seit der Vergabe Tausende Gastarbeiter gestorben sind und wo Homosexualität hart bestraft wird. Bereits am 4. Februar beginnen in Peking die Olympischen Winterspiele; dort, wo es kaum natürliche Schneeflocken gibt und wo das chinesische Regime Minderheiten grausam unterdrückt.

Die Bedingungen auf den Baustellen von Fußball-WM-Gastgeber Katar sorgen schon lange für Unmut.
Die Bedingungen auf den Baustellen von Fußball-WM-Gastgeber Katar sorgen schon lange für Unmut. © Unbekannt | dpa

Sportler als Geiseln genutzt

Darüber hinaus werden im Reich der unerschöpflichen Mittel 2022 noch die Universiade, die Asien-Spiele sowie die Weltmeisterschaften im Tischtennis und Gewichtheben ausgetragen. Russland, das das militärische Säbelrasseln an der Grenze zur Ukraine akut wieder forciert und mal eben die wichtigste Menschenrechts-Organisation im Land verbietet, richtet das Champions-League-Finale im Fußball sowie die Weltmeisterschaften im Schwimmen und Volleyball aus. Und die Formel 1 macht in ihrem Rekordjahr mit 23 Stationen Halt in Katar, Saudi-Arabien, Aserbaidschan, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Man möchte fragen: Wo bitte geht’s direkt nach 2023?

Der Sport ist politisch und war es immer. Auch wenn Thomas Bach sagt, „die Olympischen Spiele können nicht die politischen Probleme lösen, die Generationen von Politikern bisher nicht lösen konnten“. Trotzdem hat der Mannschafts-Olympiasieger von 1976 im Fechten vor acht Jahren Chinas Staatspräsident Xi Jinping den Olympischen Orden in Gold verliehen. Trotzdem hat sich das IOC 2018 in Pyeongchang als Friedensstifter aufgespielt und ein gemeinsames koreanisches Frauen-Eishockey-Team samt Cheerleaderinnen aus dem Norden auf den Tribünen antreten lassen. Nun leugnet IOC-Funktionär Richard Pound aber gar zu wissen, dass China die Uiguren in Lagern interniert. Bloß nicht das Gastgeberland, das mit Völkermord in Verbindung gebracht wird, verärgern.

Und wo bleibt das Positive?

Etliche Fans zweifeln gerade, ob sie sich auf die Olympischen Winterspiele und die Fußball-WM als schwerbelastete Großereignisse freuen dürfen. Der Sport hat ja längst seine Unschuld verloren. Aber 2022 macht er sich mitschuldig, wenn seine höchsten Funktionäre mit Diktatoren und Autokraten kuscheln, nur weil die ihnen für Gastgeberrollen Unmengen an Geld und die Sicherheit der Austragung garantieren.

Die Sportlerinnen und Sportler werden dabei als Geiseln genutzt. Um sich in dem oftmals überschaubaren Zeitfenster ihrer höchsten Wettbewerbsfähigkeit der Jagd nach Medaillen und Rekorden stellen zu können, das Meiste aus ihrem Hauptbroterwerb in dieser Phase ihres Lebens herauszuholen, müssen sie dort an den Start gehen, wo das IOC sie hinbeordert. „Der Wintersport ist woanders zu Hause“, sagt Skifahrer Josef Ferstl vor den Peking-Rennen. „Aber auch dort geht es um Medaillen. Man freut sich also trotzdem darauf.“ Und dabei gilt weiterhin: Wer in Peking startet, verdient später die Anerkennung für die erbrachte Leistung. Der in Sozialen Medien leidenschaftlich geführten Wertedebatte und schnell eingeforderten Vorbildfunktion können die Athletinnen und Athleten jedoch kaum bis gar nicht gerecht werden.

Und wo bleibt das Positive?

Umso mehr darf man sich freuen, wenn Sportlerinnen und Sportler gegen zweifelhafte Vergaben von Großereignissen vorgehen, ihre Meinung kundtun und kritisieren. Es ist nicht ihre Pflicht, man darf es nicht von jedem erwarten. Wer sich aber so ein echtes Anliegen leisten kann, löst damit auch medial eine immense Wucht aus.

So wie Nationalspieler Leon Goretzka, der bei der EM im zurückliegenden Sommer den ungarischen Hooligans hinter dem Tor ein aus seinen Fingern geformtes Herz entgegenbrachte, nachdem die Uefa im Doppelpass mit Ungarns Staats-Chef Viktor Orban entschieden hatte, dass die Münchener Arena am Tag des Gruppenspiels Deutschland gegen Ungarn nicht in Regenbogenfarben als Zeichen zur sexuellen Freiheit angeleuchtet sein durfte.

In Peking finden die Winterspiele 2022 statt.
In Peking finden die Winterspiele 2022 statt. © Unbekannt | dpa

Boykotte verpuffen

So wie Tennisfunktionär Steve Simon. Der Chef der Spielerinnen-Vereinigung WTA legte sich im Fall Peng Shuai gleich mit dem chinesischen Regime an, indem er statt Videoschnipsel handfeste Beweise für die Unversehrtheit der dreimaligen Olympia-Teilnehmerin einforderte. Als er diese nicht bekam, strich er vorerst sämtliche Turniere in China, von wo aus viel Geld ins Damentennis fließt. Simon zeigt: Menschenrechte sind ihm wichtiger als Kohle.

So wie der dänische Nationalspieler Thomas Delaney, der die bevorstehende WM in Katar als Symbol für das brandmarkt, was im Fußball so alles schiefläuft. „Es geht ums Geld – und deshalb ist die WM in Katar“, sagt der frühere BVB-Profi, der aktuell in Sevilla spielt. „Für mich ist das in jeglicher Hinsicht eine schlechte Idee. Ich wünschte, die WM würde anderswo ausgetragen.“

Und wo bleibt das Positive?

Was es braucht, ist ein Aufbruch, kein Abbruch. Bezüglich China und Katar ist das Kind in den Brunnen gefallen. Ein politischer Boykott, wie ihn die Regierungen in den USA, Großbritannien oder Japan ausgerufen haben, verpufft im Nichts. Oder kann sich noch jemand daran erinnern, dass Bundespräsident Joachim Gauck 2014 als Ausdruck des Protests den Sotschi-Spielen fernblieb? Und falls doch: Was hat das in Russland und in der Ukraine bewirkt? Nichts, genau. Schon Helmut Schmidt hat 1980 nach dem West-Boykott der Spiele von Moskau, als sogar die Athleten wie damals noch Thomas Bach zu Hause bleiben mussten, gesagt: „Es hat nichts gebracht. Die russischen Fernsehzuschauer haben gar nicht gemerkt, dass ein paar Staaten gefehlt haben.“

Bei dem einen oder anderen Fan führt all dies natürlich zu einer Entfernung vom Sport. Es gibt gerade Wichtigeres in der Welt als Wettkämpfe um Medaillen oder Fußballspiele. Gleichwohl wird der Ball weiter rollen, werden Menschen die Stadien bis an den Rand füllen. Und auch nach Peking werden die Olympischen Spiele ein Faszinosum sein. Schließlich gibt es mit Paris, Mailand/Cortina d’Ampezzo, Los Angeles und Brisbane bis 2032 erst einmal nur nette Gastgeber.

Für die Olympischen Spiele ist dies eine Chance, Vertrauen zurückzugewinnen – ob das IOC sie nutzen will, steht auf einem anderen Blatt. Der Gigantismus wird erhalten bleiben. Dennoch geht es darum, auch für die Zukunft Kinder zu begeistern, sich im Schwimm-, Leichtathletik- oder Skiverein anzumelden. Damit sie dann in 15 Jahren um Gold, Silber und Bronze kämpfen können.

Das, um noch einmal auf Erich Kästner zurückzukommen, wäre dann etwas ausgesprochen Positives.