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Die deutsche Mannschaft ist ungeheuer jung und funktioniert trotz flacher Hierarchie. Führungsspieler Michael Ballack will an der EM 2012 wieder teilnehmen. Aber passt er überhaupt noch ins Gefüge?
Eine der vielen Fußball-Weisheiten, die so oft wiederholt werden, besagt, dass jede Mannschaft einen Spieler braucht, der auch mal richtig unangenehm werden kann. Ein großer Verfechter dieser These ist Oliver Kahn. „Wenn eine Mannschaft aus lauter netten Schwiegersöhnen besteht”, hat der frühere Torwart-Titan einmal in einem Interview rhetorisch gefragt, „wie will man da gewinnen?”
Es ist also kein Wunder, dass sich der Keeper zu seiner aktiven Zeit bei den Bayern immer besonders gut mit seinem Teamkollegen Stefan Effenberg verstanden hat. Schließlich gilt „Effe” als Prototyp eines Fußballers, der keiner Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen ist.
Beispiele gibt es genügend. Als Effenberg im April 2001 mit den Münchnern bei Manchester United im Old Trafford antritt, fackelt er nicht lange. Zunächst foult er David Beckham, und dann verweigert er dem verdutzten Superstar den Handschlag. Am Ende hatten die Bayern mit 1:0 gewonnen, und Beckham war kurz vor dem Abpfiff ausgewechselt worden.
„Manchmal braucht man Drecksäcke"
„Man muss sich Respekt verschaffen”, betont Oliver Kahn. „Und manchmal braucht man eben Drecksäcke.” Drecksack, das ist das Wort, das in diesem Zusammenhang immer wieder fällt. Zuletzt war es Rudi Völler, der erst vor wenigen Monaten diesen Begriff bemühte. „So ein kleiner Drecksack, der fehlt uns schon”, bekannte der Teamchef von Bayer Leverkusen ziemlich freimütig. „Da sind wir immer auf der Suche, aber solche Typen wachsen natürlich nicht auf den Bäumen.”
Gefunden hat er jetzt Michael Ballack. Der hat zwar nicht den Ruf, dass er einen Gegenspieler nur deshalb von den Beinen senst, um sich Respekt zu verschaffen, doch als Führungsspieler, als Chef oder Häuptling, gilt der Mittelfeldmann allemal. Ballack ist genau der Spielertyp, glaubt Völler, den Bayer noch braucht. Deshalb hat der Sportdirektor den langjährigen Kapitän der Nationalelf für viel Geld aus England geholt.
Interessant ist jetzt, gerade nach den jüngsten Ergebnissen bei der Weltmeisterschaft, die Frage, ob die deutsche Nationalmannschaft noch einen Ballack braucht? Sollte Bastian Schweinsteiger weiterhin den Takt so gekonnt vorgeben, sollte das Spiel der Deutschen am Samstag auch gegen Argentinien so fluppen wie beim Sieg gegen Australien, oder beim Triumph über England, wird die Frage hundertprozentig kommen. Und sie ist durchaus berechtigt.
Löw blendete Ballacks Ausfall aus
Als Michael Ballack vor wenigen Wochen die Diagnose bekam, ein Einsatz bei der Weltmeisterschaft in Südafrika sei völlig unmöglich, war das zunächst ein Schock für alle deutschen Anhänger. Kann ein so grünes Team, so die Diskussion, auf einen Führungsspieler wie Ballack verzichten? Muss jetzt Torsten Frings sofort nachnominiert werden? Der Einzige, der dieses Thema komplett ausblendete, war Bundestrainer Joachim Löw.
Weil er wusste, dass sein Team keinen ausgesprochenen Anführer braucht? Weil er sicher war, dass seine Mannschaft als Kollektiv funktionieren wird? Weil er ahnte, dass Bastian Schweinsteiger sein Potenzial ausschöpfen wird, ohne sogleich als Häuptling? aufzutreten? Die Aussage darf man treffen: Das Mannschaftsgefüge in der DFB-Auswahl hat sich geändert. Die Verantwortung wird jetzt auf viel mehr Schultern verteilt.
Und Thomas Müller, zweifacher Torschütze gegen England und der große Aufsteiger im Team, hat diese flache Hierarchie sehr plastisch formuliert, als er vor dem Beginn der Weltmeisterschaft betonte: „Natürlich gehen die erfahrenen Spieler voran wie Miro Klose, Phillip Lahm, Bastian Schweinsteiger oder auch Per Mertesacker. Ich denke aber nicht, dass der Kapitän aufsteht und sagt: So, ich bin der Chef und ihr macht das, was ich will.”
Rudi Völler hat Ballack gerade erst zum neuen „Fixpunkt” von Bayer Leverkusen erklärt. Und Ballack selbst hat unmissverständlich betont, weiter für die deutsche Nationalmannschaft spielen zu wollen. Sein erklärtes Ziel ist die Teilnahme an der Europameisterschaft in zwei Jahren in Polen und der Ukraine. Ob er dann, zumal mit beinahe 36 Jahren, noch ins Gefüge passt?
Gerade in diesen Tagen fühlt man sich an eine der älteren Fußball-Weisheiten erinnert, die zu den großen Zeiten von Fritz Walter immer wieder zitiert wurde: „Einer für alle, alle für einen.“ Heute würde man vielleicht sagen: Der Star ist die Mannschaft.