Düsseldorf. Deutschlands Tischtennis-Idol hofft mit dann 43 Jahren auf Olympia in Paris. Hinter ihm liegt eine schwere Zeit. Freitag startet die WM.

Timo Boll bleibt nicht lange unerkannt. Entspannt sitzt er im Bistro des Deutschen Tischtennis-Zentrums in Düsseldorf, da kommt ein Junge auf ihn zu, bittet schüchtern um ein Foto. Boll, zu nett um nein zu sagen, erfüllt den Wunsch. Kleiner Aufwand hier, großes Glück da. Der 42-Jährige ist einer der bekanntesten Sportler Deutschlands – und hat vom Tischtennis immer noch nicht genug. Zwar beginnt die Team-WM an diesem Freitag in Busan mit dem Gruppenspiel gegen die USA (9 Uhr/DYN) wegen einer Augenentzündung ohne ihn. Doch ein Einsatz im Verlauf des Turniers in Südkorea ist nicht ausgeschlossen. Nach einer langen Verletzungspause ist die frühere Nummer eins der Welt zurück auf der internationalen Tischtennis-Bühne – und traut sich wieder, von der siebten Olympia-Teilnahme im Sommer in Paris zu träumen. Die Einzelmedaille ist es, die ihm dort noch fehlt.

Herr Boll, haben Sie sich schon umgehört, wo es in Paris den besten Kaffee gibt?

Timo Boll: Nee, ich nehme ja immer meinen eigenen mit – da muss man erstmal einen Besseren finden. (lacht) Vor den Spielen in Tokio hatte ich tatsächlich mal geschaut, aber da konnten wir dann leider nicht hin. Wegen Corona durften wir ja nicht aus dem Olympischen Dorf raus. Aber solche Gedanken habe ich mir für Paris noch nicht gemacht – das Rennen um eine olympische Nominierung war ja für mich lange Zeit relativ weit weg.

Hinter Ihnen liegt eine lange Leidenszeit. Sie hatten fast das ganze vergangen Jahr mit einer Schulterverletzung zu kämpfen, rutschten in der Weltrangliste auf Platz 200 ab. Wie haben Sie die Zeit erlebt?

Das war eine lange Zeit, da habe ich schon einbüßen müssen. Es war gar nicht so eine Verletzung, die man jetzt auf einem Bild sehen konnte, sondern mehr so ein funktionelles Problem, was sich eingeschlichen hat durch die ganzen Verletzungen, die ich vorher hatte.

Erfolgreich in Japan: Das deutsche Tischtennis-Team 2021 bei den Olympischen Spielen in Tokio: Patrick Franziska, Timo Boll, Dimitrij Ovtcharov und Bundestrainer Jörg Roßkopf (von links) nach dem Finaleinzug.
Erfolgreich in Japan: Das deutsche Tischtennis-Team 2021 bei den Olympischen Spielen in Tokio: Patrick Franziska, Timo Boll, Dimitrij Ovtcharov und Bundestrainer Jörg Roßkopf (von links) nach dem Finaleinzug. © DPA Images | Kin Cheung

Zum Beispiel?

Ich hatte einen Bauchmuskel gerissen, die Rippen gebrochen, zweimal eine Rippenfellentzündung gehabt. Dadurch habe ich oft schief gestanden und die komplette Schulter hat sich verzogen. Das musste dann erstmal wieder alles ins Lot gebracht werden.

Das zerrt an den Nerven.

Ja, vor allem, weil es auch den Alltag belastet. Ich konnte kaum schlafen, kaum Auto fahren. Es war echt kein Spaß, sich irgendwie einen Pulli oder eine Jacke anzuziehen. Ich hätte es vielleicht noch akzeptieren können, wenn es fürs Tischtennis nicht mehr gereicht hätte, aber dass man auch im Alltag gehandicapt ist, hat genervt und war ein zusätzlicher Ansporn, da wirklich hart dagegen anzugehen.

Timo Boll hat seine eigenen Leistungsexplosion nicht erwartet

Haben sich dann auch mal düstere Gedanken eingeschlichen?

Ich war ja jetzt nicht mehr 25, wo es düstere Gedanken gewesen wären, ob man vielleicht aufhören muss. Mit 42 hat man den Gedanken schon öfter gehabt. Aber ich wollte es mir auch selbst nochmal beweisen, dass ich mich da raus kämpfen kann. Ich wollte nicht als Sportkrüppel aufhören.

Die Arbeit hat sich gelohnt, Sie spielen wieder.

Ja, es war schon viel Arbeit, und ist es auch weiterhin. Ich muss viel investieren, um überhaupt spielfähig zu sein. Aber noch hatte ich die ganze Zeit Lust auf Tischtennis und war zumindest bereit, mich zu quälen. Jetzt habe ich mich endlich auch mal wieder belohnt, und das macht den Spaß noch größer.

Sie haben Anfang des Jahres in Doha ein Turnier der internationalen WTT-Serie gegen extrem starke Konkurrenz gewonnen, sind in der Weltrangliste zurück in der Top 50. Bundestrainer Jörg Roßkopf nannte sie daraufhin „ein Phänomen“.

Ja, es waren halt wirklich Topgegner, die man mir auch nicht mehr zugetraut hat und gegen die ich auch verloren habe, als ich noch fit war. Dass nochmal so eine Leistungsexplosion kommt, mit der habe ich jetzt auch nicht gerechnet. Ich habe mich innerlich darauf eingestellt, dass ich nicht mehr der gleiche Spieler bin wie früher.

Timo Boll: Olympia war die Motivation, sich zurückzukämpfen

Gehen Sie anders an Spiele heran?

Ja, früher hatte ich immer so eine Selbstsicherheit, weil ich immer gut gespielt habe und einfach gewusst habe, was ich zu leisten imstande bin. Das Gefühl hatte ich die letzten Monate nicht mehr. Früher habe ich einfach den Körper angeschaltet und dann habe ich gewusst, irgendwann kommt der Touch, und dann gewinne ich normalerweise das Spiel. Jetzt muss die Diesellock erstmal ins Laufen kommen und kann nicht einfach so angeworfen werden.

Man hat bei Ihnen das Gefühl, dass Sie sich als Spieler noch einmal neu erfunden haben.

Es ist ein anderes Tischtennis, das ich spiele. Früher konnte ich meine körperlichen Möglichkeiten ausspielen, war ich immer einer der fittesten Spieler. Da konnte ich über die Ballwechsel gehen und über meine Sicherheit. Das geht jetzt nicht mehr – obwohl ich mich echt ganz gut bewegt habe. Das habe ich mir auch nicht mal zugetraut, so flink zu sein. (lacht) Ich muss jetzt noch viel präziser und taktisch besser spielen. Das ist sehr anstrengend, aber eine schöne Herausforderung.

Gibt das Sicherheit mit Blick auf Paris?

Ehrlich gesagt, habe ich mir noch nicht so viele Gedanken gemacht. Ich habe die letzten Monate wirklich von Woche zu Woche geschaut. Es ist jetzt aber zumindest realistischer, greifbarer geworden. Ich muss jetzt jede Möglichkeit nutzen, um mich zu empfehlen. Viele Turniere kommen da nicht mehr.

Was würde Ihnen die siebte Olympia-Teilnahme bedeuten?

Es war immer ein Halm, an dem ich mich in den letzten eineinhalb Jahren festgehalten habe, der mir Motivation gegeben hat. Jetzt habe ich wieder die Möglichkeit, es zu erreichen. Wenn ich am Ende doch nicht nominiert werde, dann bin ich jetzt aber auch nicht super traurig.

Timo Boll: Olympia gerne, aber nicht um jeden Preis

Sie, Dimitrij Ovtcharov, Dang Qiu, Patrick Franziska und Benedikt Duda sind fünf starke Spieler in der Mannschaft, nur vier dürfen aber zu Olympia...

Ich würde mich freuen, noch einmal dabei zu sein, aber nur wenn ich konkurrenzfähig bin. Sonst will ich gar nicht dabei sein. Ich muss jetzt spüren, dass ich die Belastung durchhalte. Ich will es den Trainern nicht zumuten, jemanden dabei zu haben, bei dem sie nie wissen, ob sie ihn einsetzen können oder nicht. So ein ständiges Hick-Hack möchte ich nicht verantworten.

Die Stimmung im Team ist gut: Timo Boll (rechts) mit seinem Nationalmannschaftskollegen Patrick Franziska bei den WM-Vorbereitungen.
Die Stimmung im Team ist gut: Timo Boll (rechts) mit seinem Nationalmannschaftskollegen Patrick Franziska bei den WM-Vorbereitungen. © DPA Images | --

Also würde es Ihre Karriere nicht schmälern, wenn Sie es nicht zu Olympia schaffen?

Nein. Ich spüre so langsam auch ein Verlangen, ein bisschen mehr Familienleben zu genießen. Wenn es nicht klappt, habe ich zumindest alles probiert – und habe einen schönen Sommer mit meiner Familie.

Ist es Ihnen heute wichtiger, auch mal über den Rand des Tisches hinauszuschauen?

Ja, das ist wahrscheinlich im Laufe der Zeit so. Wenn man spürt, es geht dem Karriereende entgegen, dann werden andere Dinge wichtiger.

Nach der Karriere: Zeit für Familie, Freunde, Golf und Tennis

Rücken dann auch die Gedanken an die Zeit nach der Karriere in den Fokus?

Klar, man macht sich seine Gedanken. Das, was man lange vor sicher hergeschoben hat, wird dann immer greifbarer. Und dann freut man sich auch darauf.

Wie sieht Ihr Plan für den Tag X aus?

Wie es beruflich weitergeht, das weiß ich noch gar nicht, da laufen viele Gespräche im Hintergrund. Aber freizeitmäßig steht der Plan. (lacht) Ich will weiter viel Sport treiben, mehr mit Freunden machen, ein bisschen Tennis oder Golf spielen. Mit der Familie reisen.

Timo Boll: Finale ist bei der WM das Ziel

Noch sind Sie aber Teil der Nationalmannschaft: Wie ist Ihre Rolle da?

Ich bin mir sicher, dass die Jungs auch ohne mich stark sind. Aber sie geben mir zumindest noch das Gefühl, dass sie mich gerne dabeihaben. Sie sagen mir, dass sie sich auf die Zeit mit mir freuen.

Wie wichtig ist der Wohlfühlfaktor?

Dass wir uns untereinander so gut verstehen, ist sicherlich ein Faktor, warum wir so lange zusammen erfolgreich sind – gerade mannschaftstechnisch. Für mich ist das sehr wichtig gewesen. Ich habe ja für die Mannschaft auch immer besser gespielt als für mich selbst (lacht). Und da ist es sicher ein Grund, dass ich mich wohlgefühlt habe in der Nationalmannschaft.

Gruppengegner bei der WM sind neben den USA Saudi Arabien, Kasachstan und England. Welche Erwartung haben Sie?

Ich glaube, keiner von uns wäre happy, wenn wir nicht ins Finale kämen. Auch wenn das schwierig wird, glaube ich, steckt das immer noch in uns. Und das muss das Ziel sein.