Düsseldorf. Am Mittwochabend spielen die Deutschen Handballer in Düsseldorf das EM-Auftaktspiel gegen die Schweiz. Ein Spiel der Superlative.
Alfred Gislason ließ seinen Blick durch die Düsseldorfer Arena streifen. Geradeaus auf die vielen bunten Sitzplätze, hoch zum geschlossenen Dach und vorbei an den vielen Helfern. Die schiere Größe des Düsseldorfer Stadions schien selbst den Mann zu beeindrucken, der eigentlich schon alles gesehen hat. Aber ein Fußballstadion, das zu einer Handball-Arena umgebaut wird? Das ist größer als alles, was der Isländer bisher in seinem Sport erlebt hat. Was schon etwas heißen soll, denn Gislason hat viel gesehen und viel erlebt. Abgeklärt versuchte er dann auch, seiner Mannschaft einzuimpfen: „Es ist nur ein Handballfeld. Und es ist so groß wie alle anderen.“
40 Meter lang und 20 Meter breit ist die „Platte“, auf der sich seine Spieler seit der Kindheit messen. Auf dem sie Pässe und Würfe trainierten, auf der sie zu Profis und zu Nationalspielern wurden. 40 mal 20 Meter, ob im Ruhrgebiet, in Berlin, Hamburg oder München, ob in Schulsporthallen oder der legendären Ostseehalle in Kiel. 40 mal 20. Doch dieses EM-Eröffnungsspiel in Düsseldorf ist so viel größer, als dass es durch genormte Spielfeldmaße ausgedrückt werden könnte. Knapp 53.000 Zuschauer werden an diesem Mittwoch zum offiziellen Auftaktspiel gegen die Schweiz erwartet (20.45 Uhr/ZDF), seit Wochen ist das Medieninteresse riesig, die EM im eigenen Land soll zum Handball-Fest werden. Mit einem Zuschauer-Weltrekord zum Auftakt.
Große Erwartungen an deutsche Handballer
25 Kilometer Kabel wurden verlegt, 450 Quadratmeter LED-Beleuchtungen installiert und Zusatztribünen mit mehr als 9000 Plätzen aufgestellt, um das Fußballstadion zur größten Handball-Halle der Welt umzubauen. Es ist der Ort, an dem die EM-Reise des deutschen Teams starten wird. Die Vorrundenspiele gegen Nordmazedonien und Frankreich folgen in Berlin, danach soll sich die Haupt- und bestmöglich die Finalrunde in Köln anschließen. Weitere Vorrundenspielorte sind Mannheim und München, in Hamburg wird die zweite Hauptrundengruppe gespielt.
Um die großen Erwartungen weiß auch Alfred Gislason. „Wir alle träumen davon, weit zu kommen. Aber unser Ziel ist es erst einmal, die Vorrunde gut zu überstehen.“ Gislason weiß, dass seine Startaufstellung mit den besten Europas mithalten kann. Die erste Sieben um Spielmacher Juri Knorr, der furchtlos und mit der Mentalität eines Straßenfußballers agiert. Um Kapitän Johannes Golla, der am Kreis in Angriff und Abwehr zu den Besten der Welt zählt, was auch für Torhüter Andreas Wolff gilt. Dazu kommt Rückraumspieler Julian Köster, ohne Zweifel der künftige Star des deutschen Handballs. Kai Häfner im rechten Rückraum, die Außenspieler Timo Kastening und Lukas Mertens – das ist eine starke Mannschaft. Dann aber wird es personell dünner, es gab viele verletzungsbedingte Absagen. Vier Spieler aus dem U21-Weltmeisterteam und ein weiterer EM-Neuling in Martin Hanne zählen auch deshalb zum 17-Mann-Kader. Mit einem Durchschnittsalter von 26,6 Jahren ist das Team so jung wie nie. Der lange geforderte Umbruch ist nun da, doch könnte er seinen Preis haben. Auch das weiß Gislason. Dieses Turnier wird auch für ihn zukunftsweisend.
Em wird auch für Gislason zukunftsweisend
Bis zum Sommer läuft der Vertrag des 64-Jährigen beim Deutschen Handball-Bund. Wird es nach der Olympiaqualifikation im Frühjahr und eventuell den Spielen in Paris weitergehen? Gespräche gibt es nach der EM, die Art und Weise des Turnierauftritts werden über den Verlauf entscheiden. Klar ist: Der Verband würde ihn gerne halten, Gislason selbst will derzeit auch weitermachen. Denn sein junges Team mag bei dieser EM nicht zu den Favoriten zählen, in den kommenden Jahren aber haben Spielmacher Nils Lichtlein, Torhüter David Späth, Rückraumspieler Renars Uscins und Kreisläufer Justus Fischer durchaus das Potenzial, mehr als „nur“ U21-Weltmeister zu werden. Und auch Knorr (23), Köster (23) und Golla (26) sind noch jung. In der Gegenwart mag dieses Team nur konkurrenzfähig sein, die Zukunft aber verspricht Dominanz.
Ende September nahm sich Alfred Gislason eine letzte persönliche Auszeit. In seiner Heimat Island ging es zum Waffel-Essen bei den Eltern und zur Bootsfahrt mit dem Bruder. Die fünf Geschwister des Bundestrainers waren allesamt in Nationalteams Islands aktiv, als Fußballer, Leichtathleten oder Gewichtheber. Auch beruflich sind sie erfolgreich, Bruder Hjortur beispielsweise ist Arzt. Alfred Gislason aber verliebte sich in den Handballsport, er operierte lieber im linken Rückraum und diagnostizierte die Schwächen des Gegners. In Deutschland wurde er mit Tusem Essen zweimal Deutscher Meister. Seinen legendären Ruf aber verdiente er sich als Trainer. Champions-League-Sieger mit dem SC Magdeburg, zweimal Königsklassen-Sieger mit dem THW Kiel, dazu insgesamt sieben Deutsche Meisterschaften. Seit knapp vier Jahren ist er nun Bundestrainer. Es waren stürmische Zeiten, die ersten beiden Turniere fielen ins Corona-Chaos, sportlich war Rang fünf bei der WM 2023 der größte Erfolg. Zu wenig für einen Erfolgsverwöhnten wie Gislason.
Nun also die Heim-EM. Gislason weiß um die Begeisterung im Land. Schließlich war er 2007 beim deutschen WM-Wintermärchen als Nationaltrainer Islands dabei. „Damals habe ich die Besonderheit eines Turniers in Deutschland erlebt“, sagte er. Um seiner Mannschaft den Druck und die Anspannung zu nehmen, wiederholte er noch einmal die Spielfeld-Maße. „40 mal 20. Und die Tore – die sind auch genauso groß wie überall.“