Hamburg. Die EM-Organisatoren Philipp Lahm und Markus Stenger sprechen über die Pläne fürs Turnier – und nehmen die Politik in die Pflicht.
Pünktlich um 11 Uhr erscheint Philipp Lahm auf dem Bildschirm, hinter seinem Kopf ist das Logo der Europameisterschaft 2024 zu sehen. Lahm (40) ist Turnierdirektor der EM in Deutschland, er leitet die Euro GmbH gemeinsam mit Markus Stenger (47) – der sich nur wenige Minuten später einwählt. Lahm und Stenger haben viel zu tun, im kommenden Juni beginnt das Turnier, am Samstag werden die Gruppen ausgelost. Entsprechend viel sind beide unterwegs, Lahm ist gerade in München, Stenger in Frankfurt, sodass das Interview mit den beiden per Videokonferenz geführt wird
Wie ist die Gefühlslage so kurz vor der Auslosung?
Philipp Lahm: Man spürt durch dieses Ereignis natürlich, dass die Uefa Euro 2024 immer näher rückt, nun auch immer greifbarer wird und die Vorfreude somit immer weiter ansteigt! Für unsere Spielorte, die Host Cities, für die Nationen, die sich qualifiziert haben, und für alle Fußball-Fans ist die Auslosung ein absolutes Highlight. Denn danach ist klar, wer gegen wen spielt und die Host Cities wissen, wer zu ihnen kommt und welche Fans sie begrüßen dürfen. Ich persönlich freue mich riesig auf die Auslosung. Wenn die verschiedenen Fußball-Verbände aus Europa in Hamburg zusammenkommen, um sich an diesem Abend entspannt auszutauschen und gemeinsam zu verfolgen, wie die Auslosung verläuft, dann ist das ein toller Vorgeschmack auf den kommenden Sommer.
Markus Stenger: Für uns ist die Auslosung auch organisatorisch sehr wichtig. Wenn wir wissen, wer wo spielt, können wir bei den Themen Sicherheit, Mobilität und in den Planungen für die Spielorte die nächsten Schritte einleiten. Sobald die Paarungen gezogen sind, beginnen viele kleine Räder, sich zu drehen. Unter anderem müssen Spielzeiten festgelegt und alle Konsequenzen daraus abgearbeitet werden. Das wird eine sehr intensive Woche – mit Fokus auf Samstagabend.
Warum haben Sie sich eigentlich für Hamburg und die Elbphilharmonie entschieden? Sicher nicht, weil sie am Abend vorher das Hamburg-Derby anschauen wollen?
Stenger: Wir waren mit unseren Planungen etwas früher dran als die Bundesliga mit ihrem Spielplan (lacht). Wir haben von Beginn an überlegt, in welchem Gebäude, in welchem Wahrzeichen Deutschlands wir so ein Ereignis durchführen können. Die Elbphilharmonie ist ein organisatorisch herausforderndes Gebäude für eine solche Auslosung. Aber wir wollen viele schöne Bilder in die Welt schicken. Dafür ist Hamburg die perfekte Wahl.
Glauben Sie, dass diese Auslosung die EM-Euphorie in Deutschland anschieben kann?
Lahm: Mit Sicherheit. Und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch bei den Fans aus ganz Europa, die zu uns reisen. Sobald feststeht, welche Mannschaften in welchen Stadien spielen und wo die Teams ihre Basis-Camps aufschlagen, werden auch die Hotelbuchungen und die Reiseplanungen so richtig losgehen. Wir haben in Deutschland nicht nur die zehn Spielorte, sondern bundesweit tolle Regionen und sicher werden viele Fans überlegen, ob sie auch mal an die Nord- oder Ostsee oder in die Berge fahren oder andere deutsche Städte besuchen. Das Turnier rückt näher, es wird greifbarer für alle – und das wird sicher eine Begeisterung nicht nur bei uns, sondern in ganz Europa wecken.
Für eine EM-Euphorie wäre eine begeisternde deutsche Nationalmannschaft hilfreich. Die jüngsten Spiele dürften Sie sich also anders vorgestellt haben.
Lahm: Während der USA-Reise im Oktober hat man schon gesehen, dass die Nationalmannschaft leistungsfähig ist, dass sie Qualität hat und den Willen besitzt, Spiele zu drehen. Die letzten beiden Partien waren dann definitiv ein Rückschritt, weil wieder vieles gefehlt hat. Wenn ich aber zurückdenke an das Sommermärchen 2006 – da war kurz vor dem Turnier-Start auch nicht alles rosig. Im Gegenteil: Nachdem wir im März 2006, also nur drei Monate vor der WM, mit 1:4 in Italien verloren hatten, war die Stimmung im deutschen Fußball sehr negativ. Nun ist es ähnlich und daher ist es jetzt umso wichtiger, dass die Mannschaft begreift, was für eine große Chance es ist, eine Euro im eigenen Land, vor den eigenen Fans spielen zu dürfen. Die Spieler müssen nun als Mannschaft zusammenwachsen. Da sind alle – auch das Trainerteam – gefordert. Wenn sie das hinbekommen, bin ich davon überzeugt, dass die Mannschaft die Qualität hat, die Fans zu begeistern – und dass es mit der entsprechenden Unterstützung der Anhänger im Turnier weit gehen kann. Das Wichtigste ist, dass jeder seine Rolle kennt, sich einordnet und in den Dienst der Mannschaft stellt – das ist uns 2006 gelungen.
Es klingt durch, dass Sie nicht zufrieden sind, wie sich die Nationalmannschaft zuletzt präsentiert hat.
Lahm: Die Mannschaft hat von elf Länderspielen in diesem Jahr nur drei gewonnen – da kann niemand zufrieden sein. Wir wünschen uns doch alle, dass man sieht, dass die Mannschaft alles gibt für die Fans und für das ganze Land – und das in wirklich jedem Spiel.
Für die Stimmung während eines Turniers ist es gut, wenn die Gastmannschaft lange vertreten ist – drücken Sie also noch stärker die Daumen als sonst?
Lahm: Ich habe einen fußballverrückten elfjährigen Sohn zu Hause und wünsche mir für ihn, dass er endlich mal miterleben kann, wie eine deutsche Nationalmannschaft lange im Turnier mitspielt. 2014 und 2016 war er noch viel zu klein – und danach gab es schlichtweg keine deutschen Erfolge mehr bei einer Euro oder bei einer WM. Natürlich wäre es auch hilfreich für das Turnier und die Stimmung in der Bevölkerung, wenn die Nationalmannschaft sportlich überzeugt. Aber fernab davon: Wir organisieren diese EM grundsätzlich für alle Mannschaften und Menschen, die zu uns reisen. Man hat bei der WM in Katar gesehen, dass der Fußball auch nach dem Ausscheiden der Heimmannschaft weiter funktioniert: Menschen kommen zusammen und feiern zusammen, es gibt Begegnungen – das passiert unabhängig von der deutschen Nationalmannschaft.
Und haben Sie schonmal bei Franz Beckenbauer nachgefragt, wie man vier Wochen Sonnenschein für ein Sommermärchen organisiert?
Lahm: (lacht) Ein bisschen Glück braucht man immer. Der Kaiser hat das damals super hinbekommen, und ich hoffe natürlich, dass es trocken und schön warm bleibt – aber auch nicht zu heiß.
Was soll die EM in Deutschland bewirken, wofür soll sie stehen?
Lahm: Wir haben aktuell sehr viele Krisen und Herausforderungen, nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Ein Turnier wie die EURO bringt Menschen zusammen, der Fußball verbindet Menschen. Wir können unsere wichtigen westeuropäischen Werte wie Demokratie und Freiheit vorleben. Wir merken aktuell, dass wir diese Werte permanent verteidigen und stärken müssen. Die große Chance dieser EM ist, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft in Deutschland, aber auch in ganz Europa zu stärken. Es liegt jetzt an uns allen, einen Teil dazu beizutragen, dass wir uns gegenseitig stärken und uns im Sinne der Gesellschaft einbringen!
Stenger: Der europäische Gedanke ist sehr spannend. Wir haben in den vergangenen Jahren Turniere und Sportgroßereignisse in Russland, China, und Katar kritisch beäugt. Jetzt müssen wir die Chance nutzen, die Dinge in den Vordergrund zu stellen, die uns wichtig sind. Dazu gehört auch das Thema Nachhaltigkeit, gerade rund um die Mobilität der Fans. Wir liegen im Herzen von Europa, fast jede Nation kann ganz einfach anreisen, zusammenkommen und ein Fest feiern. Und darauf haben die Leute Lust, das haben viele Events in diesem Jahr gezeigt. Das gilt auch für das Länderspiel in Berlin gegen die Türkei. Es war ja keine Überraschung, dass da sehr viele türkische Fans waren. Aber ich habe die Stimmung im Stadion nicht als negativ oder respektlos empfunden. Die Hymnen wurden angehört und nicht ausgepfiffen. Es wurde gemeinsam gefeiert und sich ein bisschen geneckt. Wenn wir diese Stimmung im kommenden Jahr so hinbekommen, haben wir ein tolles Event und zeigen die verbindende Kraft des Sports.
Aber waren die Pfiffe gegen Ilkay Gündogan nicht respektlos?
Lahm: Ich war im Stadion und würde das nicht zu hoch hängen. Wie von Markus gesagt: Bei der Hymne war es mucksmäuschenstill. Man muss Ilkay fragen, ob er es respektlos fand. Ich würde sagen, dass eine sehr angenehme Atmosphäre im Stadion herrschte und auch drumherum bei An- und Abreise.
Vor der WM 2006 gab es viel Engagement und viele Kampagnen seitens der Politik, aktuell gibt es wenig davon. Erkennt die Politik die Chance, die in einer EM liegt – und nutzt sie sie?
Lahm: Die Bundesregierung nimmt die Euro sehr bewusst wahr und sie unterstützt dieses Turnier – ganz klar! Wir sind aktuell in sehr guten und sehr intensiven Gesprächen mit der Bundesregierung. Dabei hören und spüren wir, dass alle die Bedeutung dieses Turniers erkannt haben und mit uns gemeinsam diese Chance nutzen wollen. Celia Šašić, die Turnier-Botschafterin, und ich sind immer wieder im engen Austausch mit der Bundesregierung.
Stenger: Wir haben vor ein paar Wochen gesagt, dass wir uns in einigen Bereichen mehr Unterstützung wünschen. Wir sind in der Hinsicht noch lange nicht auf einem Niveau mit 2006. Wir werden es auch nicht mehr erreichen, weil sich die Zeiten geändert haben. Die Haushaltssperre wird sich auswirken – wobei uns zugesichert wurde, dass die wesentlichen rund um die Euro geplanten Projekte davon nicht beeinflusst sind.
Alles in Ordnung also?
Stenger: Natürlich geht immer mehr und natürlich wäre es schön, wenn man das schafft – noch ist Zeit, eine emotional aufgeladene Kampagne hinzubekommen, die genau die Hoffnungen, die wir alle mit diesem Turnier, mit unserem Land und Europa verknüpfen, zum Ausdruck bringt. Aber der Vergleich mit 2006 ist nicht so einfach, damals hatten wir auch andere Protagonisten. Grundsätzlich muss man sagen, dass wir offene Türen vorfinden. Was wir dann an Projekten umgesetzt bekommen, ist eine Herausforderung – aber vielleicht gelingt es ja, wenn die Ergebnisse der Auslosung das Ganze noch greifbarer machen und die Motivation stärken, an den entscheidenden Stellen noch die letzten Zentimeter zu gehen, um endlich voranzukommen.
Was wünschen Sie sich denn von der Politik – und kommt Bundeskanzler Olaf Scholz zur Auslosung?
Stenger: Protokollarisch laden wir die Staatsspitzen immer ein. Ob sie die Einladung wahrnehmen, liegt an ihnen. Für Hamburg sind wir sehr zufrieden, was die Gäste betrifft. Wir wünschen uns, dass die Politik den Weg mit uns geht, den wir in der Bewerbung partnerschaftlich aufgenommen haben, damit die Ziele erreicht werden, die Philipp schon erwähnt hat. Operativ hoffe ich, dass es uns gelingt, eine gute Visitenkarte abzugeben bei Themen wie Sicherheit, Verkehr, Infrastruktur, Mobilität und vielen mehr. Da müssen wir in Teilen noch enger und besser zusammenarbeiten. Wir haben das Gefühl, dass die Regierung um die Herausforderung weiß und sie gemeinsam mit uns angehen will.
Viel Zeit bleibt nicht mehr.
Stenger: Definitiv. Die Phase des Austauschs ist vorbei. Jetzt müssen die Dinge grundsätzlich entschieden werden. Da sind wir mit den relevanten Partnern auf dem Weg. Wir haben Anfang des Jahres noch eine Sitzung mit dem Nationalen Koordinierungsausschuss, der genau für solche Dinge gegründet wurde. Danach braucht man keine Konzepte mehr entwickeln, dann geht es nur noch um das Turnier. Und das haben jetzt auch alle verstanden.
Es wurde an einigen Standorten, unter anderem in Hamburg, noch verhandelt über die Umbauarbeiten der Stadien. Gibt es noch offene Baustellen?
Stenger: Mit den Stadien sind wir auf einem sehr guten Weg. Der Plan der Bewerbung, in fertigen Stadien zu spielen, ist voll aufgegangen. Jeder Standort hat individuelle Herausforderungen, aber größere Umbauarbeiten laufen nur in Stuttgart. In Hamburg hatten wir ein paar Themen, da sind auch noch nicht alle zu 100 Prozent gelöst.
Was meinen Sie konkret?
Stenger: Die Hamburger haben die besondere Situation, Gastgeber für die Champions-League-Spiele von Schachtar Donezk zu sein. Das hatte Einfluss auf Fristen, der Austausch der Dachmembran hat sich zum Beispiel verzögert. Aber auch Hamburg ist jetzt voll in der Spur.
DFB-Präsident Bernd Neuendorf hat gesagt, dass Deutschland die nachhaltigste EM der Geschichte austragen will. Kann das gelingen?
Lahm: Die Stadien stehen allesamt bereits und werden vor und auch nach der Euro regelmäßig genutzt – anders als bei anderen Welt- und Europameisterschaften, wo die Stadien nur dafür gebaut und danach nicht mehr mit Zuschauern gefüllt wurden. Nachhaltigkeit ist ein Querschnittsthema, das wir bei allen Themen mitdenken. Wir müssen für die Fans Angebote schaffen, um Emissionen gering zu halten. Wir haben mit der Deutschen Bahn und dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen Partnerschaften, damit die Fans günstiger durch Deutschland und die Host Cities reisen können. Uns ist aber auch die soziale Nachhaltigkeit wichtig und da bringt das Turnier viel mit.
Was denn genau?
Lahm: Es bringt die Menschen wieder zusammen. Das war durch die Pandemie und andere Krisen in den vergangenen Jahren nicht mehr gegeben. Es ist die große Hoffnung, dass das Turnier im Herzen von Europa ein neues Wir-Gefühl in Deutschland, aber vor allem auch in Europa schafft. Wir versuchen bei Themen wie dem Spielplan oder den Teamcamps neue Standards zu setzen, indem wir für möglichst kurze Reisestrecken sorgen – um es künftigen Turnier-Organisationen in Zukunft schwerer zu machen, dahinter zurückzufallen. Ich will aber auch betonen, dass die Uefa dieses Thema von Anfang an ernst genommen hat.
Die Fifa weniger, wenn man sieht, über wie viele Länder oder sogar Kontinente die kommenden Weltmeisterschaften verteilt sind.
Lahm: Da gebe ich Ihnen absolut recht.
Der DFB hat sich bei gesellschaftspolitischen Fragen zuletzt in Katar sehr klar und kritisch positioniert. Haben Sie die Sorge, dass andere Länder jetzt mit Argusaugen auf Deutschland gucken und darauf lauern, dass Fehler passieren?
Lahm: Ich hoffe doch, dass in Zukunft überall genau hingeschaut wird, genau das wollen wir. Es muss offen darüber diskutiert werden, wo die nächsten Weltmeisterschaften stattfinden. Es muss Transparenz geben, warum welche Entscheidungen getroffen werden. Wir versuchen alles, dass es eine nachhaltige EM wird, daran wollen wir uns messen lassen. Und dann hoffen wir, dass zukünftig bei allen Turnieren sehr viel mehr Wert gelegt wird auf Nachhaltigkeit und auf Transparenz bei den Entscheidungen. Natürlich wird es auch kritische Stimmen geben, aber das gehört dazu.
Zum Abschluss: Was machen Sie beide am 14. Juli und was danach?
Stenger: Ein Urlaub wäre anschließend nett (lacht). Dann endet ein sieben Jahre langer Weg, Philipp und ich sind ja von Tag eins an Teil davon. Wenn wir dann mit dem Gefühl in den Urlaub fahren, ein sicheres, erfolgreiches Turnier veranstaltet zu haben, sind wir zufrieden.
Lahm: Am 14. Juli sind wir mit Sicherheit beim Finale im Stadion in Berlin. Es wäre schön, wenn wir danach auf vier tolle, friedliche Wochen zurückblicken können und ein wunderbares Fest hier in Deutschland erlebt haben.