Wolfsburg. Pascal Groß stieg einst mit Ingolstadt aus der Bundesliga ab - jetzt ist er mit 32 erstmals bei der Nationalmannschaft dabei. Wie kam es dazu?

Die Bühne, die eine Pressekonferenz bietet, ist nicht unbedingt die, auf der sich Pascal Groß wohl fühlt. Seine Antworten geraten am Dienstagmittag in einem Pavillon der Autostadt Wolfsburg recht kurz, der Blick geht dabei immer wieder nach unten. Man kann sich daher sehr gut vorstellen, wie sehr Groß hofft, dass ihm das Aufnahmeritual erspart bleibt. Eine Gesangseinlage vor der gesamten Mannschaft ist ja eigentlich die Voraussetzung, um nach einer Nominierung durch den Bundestrainer dann auch wirklich Teil der deutschen Nationalmannschaft zu sein. Ob er als 32-jähriger Debütant an dieser Prüfung vorbeikommt? „Hoffentlich“, sagt Groß, grinst verlegen, und fügt hinzu: „Ich habe andere Talente.“

Wo diese liegen, deutete er rund zwei Stunden zuvor auf einem der Trainingsplätze des VfL Wolfsburg an. Saubere Pässe, den Kopf dabei immer – anders als vor dem Mikrofon – nach oben gerichtet. In der Autostadt am Mittelland-Kanal bereitet sich die DFB-Elf auf die beiden Länderspiele am Samstag gegen Japan (20.45 Uhr/RTL) und am kommenden Dienstag in Dortmund gegen Frankreich (21 Uhr/ARD) vor. Groß ist überraschend zum ersten Mal nominiert – und das auch noch anstelle von Identifikationsfigur Leon Goretzka (28).

Groß ist ein Spätberufener, der in der englischen Premier League, fernab der deutschen Fußball-Öffentlichkeit, einen bemerkenswerten Karriere-Weg eingeschlagen hat. Im Jahr 2017 wechselte er vom damaligen Bundesliga-Absteiger FC Ingolstadt zum Premier-League-Neuling Brighton & Hove Albion. Inzwischen hat er für den Klub 27-mal im englischen Oberhaus getroffen, ist damit Rekordtorschütze des Vereins. Auch dank Groß, dem gebürtigen Mannheimer, der auch nach sechs Jahren auf der anderen Seite des Ärmelkanals seinen badischen Dialekt nicht verloren hat, darf Brighton erstmals an der Europa League teilnehmen.

Sein Trainer lobt den Nationalmannschafts-Neuling

„Pascal Groß ist einer der besten Spieler, die ich in meiner Karriere hatte“, schwärmt Roberto De Zerbi, dessen in Trainer in England. „Er ist ein fantastischer Spieler. Er kann überall auf dem Feld spielen.“ Groß sei „sehr clever“ und ein „fantastisch in Bezug auf seine Einstellung und seine Leidenschaft.“

Über Pascal Groß weiß man wenig, er flog lange unter dem Radar, nicht nur unter dem von Bundestrainer Hansi Flick (58). Vielleicht liegt es auch daran, dass sich Groß selbst ungern inszeniert. Von den sozialen Medien hält er sich fern. „Unser Leben hat schon viel mit Auf und Abs zu tun“, sagt er. „Social Media macht auf dieser Achterbahn die Kurven noch höher und tiefer.“

Wer ist also der Mann, der in England überzeugt, und plötzlich auch dem deutschen Fußball helfen soll? Am besten fragt man diejenigen, die ihn schon länger kennen.

Michael Henke: Groß ist "Inbegriff des Straßenfußballers"

Zum Beispiel Michael Henke, 66, einst Titelsammler als Assistent von Trainerlegende Ottmar Hitzfeld bei Borussia Dortmund und Bayern München. Zum Ende seiner Laufbahn arbeitete Henke im Trainerteam des FC Ingolstadt. „Pascal ist der Inbegriff des Straßenfußballers“, sagt Henke im Gespräch mit dieser Redaktion. „Er hat permanent gelernt, Lösungen zu finden, um gewisse Defizite auszugleichen. Jemanden auf 20 Meter weglaufen, das kann er nicht. Da musste er sich eben etwas anderes ausdenken.“

Wenn Henke über Pascal Groß spricht, ist der er schnell beim großen Ganzen der Fußball-Ausbildung in Deutschland. „Wir suchen die Lösungen im Computer. Wie Mehmet Scholl sagte: Stichwort Laptoptrainer“, meint er. „Da sind sie aber nicht. Man findet sie so, wie Pascal Groß sie gefunden hat oder wie Trainer ihm dabei geholfen haben. Das ist das wichtigste Merkmal seiner Laufbahn.“

Wie Pascal Groß mit einem Loch in der Scheibe trainierte

Und eine Anekdote, die ihn am besten beschreibt? Da denkt der Trainer aus Ostwestfalen an den Container mit der kaputten Scheibe am Rande der Ingolstädter Anlage. Durch das Loch hab der Ball gerade so durchgepasst. Pascal Groß sei „ein Zocker, ein Wettkamptyp“, so Henke, er habe sich gerne mit seinen Mitspielern duelliert: Wer trifft durch die Lücke in der Scheibe? „Das war spielerisch gedacht, aber da war auch ein gewisser Ernst hinter“, erinnert sich Henke. „Heute reden wir darüber, Wettbewerbe in der Jugend abzuschaffen. Der Reiz, gerade für Profis, liegt aber genau darin.“

Groß sei immer vorne mit dabei gewesen bei den Schüssen durch das Loch in der Scheibe. Möglicherweise lag es ja auch an den Extraschichten mit Hakan Calhanoglu. Noch so eine Geschichte, die man über den Nationalmannschafts-Neuling erzählen kann. Der türkische Freistoßkünstler, 29, der heute bei Inter Mailand unter Vertrag steht, gehörte neben Groß zu einer höchsttalentierten Generation des Karlsruher SC. Beide lebten sogar in einer Wohngemeinschaft. Nach dem Training, so erzählte es Groß jedenfalls später in Ingolstadt in der Kabine, sollen beide noch auf dem Bolzplatz Freistöße geübt haben.

Standardschütze Joshua Kimmich muss sich keine Sorgen machen

Nein, das ist keine Garantie, dass er nun die Freistöße in der Nationalmannschaft schießt und damit auf dem Metier von Joshua Kimmich (28) wirkt. „Ich bin mir meiner Rolle bewusst“, sagt Groß. „Wenn ich Spielminuten bekomme, werde ich machen, was für die Mannschaft am besten ist.“ Selbst schießen, im Rückraum auf Abpraller warten? Völlig egal.

Er versuche, seine Energie einzubringen. „Meine größte Stärke ist, dass ich ein Mannschaftsspieler bin und probiere, meine Mitspieler so gut ich kann in Szene zu setzen.“ Eigenschaften, die in letzter Zeit beim DFB häufig zu kurz kamen.