Budapest.. Natürlich ist Leo Neugebauer allein nicht die Lösung für alle DLV-Probleme. Doch der Zehnkämpfer deutet bei der WM sein Starpotenzial an.

 Am Tag nach dem Drama grinste Leo Neugebauer schon wieder. Doch das Strahlen, das aus dem 23-Jährigen zu kommen scheint, wirkt wie gedimmt. Der Zehnkämpfer ist erschöpft, sein Körper müde. Aber die Party, die sei geil gewesen, sagt er und lacht. Am Samstag verpasste der deutsche Hoffnungsträger bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Budapest zwar eine Medaille, zufrieden ist er als Fünfter dennoch.

In Budapest teilte er sich die WM-Bühne am Samstag mit zwei ganz Großen: Der Schwede Armand Duplantis verteidigte seinen WM-Titel im Stabhochsprung und knackte beinahe seinen eigenen Weltrekord. Noah Lyles (USA) gelang als erster Sprinter seit Jamaika-Legende Usain Bolt das Triple aus Gold über 100 und 200 Meter sowie mit der 4x100-Meter-Staffel. Für Neugebauer ist es noch ein ganzes Stück zu dem Niveau dieser Stars, doch sein Auftreten macht Mut.

Neugebauer gewinnt die Herzen der Fans im Stadion

Leo Neugebauer ist auch ohne Medaille ein Hauptgewinn für die deutsche Leichtathletik. Der Modellathlet hat das Potenzial, der großen, aber hierzulande auch angestaubten olympischen Kernsportart zu neuer Frische zu verhelfen. Dabei lebt er weit weg. Neugebauer hat seinen eigenen Weg gewählt. Er trainiert und studiert seit 2019 in Austin/Texas in den USA. Er wurde geformt im professionellen College-System. Die Kombination aus Selbstgewissheit und Lockerheit, die viele US-Athleten verkörpern, hat er dort aufgesogen.

Der 23-Jährige bringt neben Topergebnissen nicht nur deutsche Tugenden wie Fleiß, Disziplin und Leistungswillen mit – er gibt ihnen ein cooles Gewand. Neugebauer ist beinahe provokant positiv. Er weiß, was er kann, er ist mental stark – und ein Showman. Bei seiner erst zweiten Erwachsenen-WM spielte er so unwiderstehlich mit dem Publikum, dass er das ganze Stadion hinter sich bringen konnte.

Anders als Lückenkemper und Co.: Neugebauer liefert das Gesamtpaket

Auch wenn der ganz große Leistungsbeweis auf internationaler Bühne noch aussteht: In Budapest konnte man beobachten, wie ein Athlet von Weltformat entsteht. Einer, der Starpotenzial hat. Einer, wie ihn Deutschland dringend braucht. Zwar gibt es Vorbilder wie Zehnkampf-Europameister Niklas Kaul, der die WM wegen einer Fußverletzung beenden musste, Sprint-Europameisterin Gina Lückenkemper und Weitsprung-Olympiasiegerin Malaika Mihambo. Sie alle haben Titel gewonnen, können sich vermarken. Doch Lückenkemper fehlt das Weltformat, Mihambo und Kaul sind zu glatt. Leo Neugebauer liefert das oft beschworene Gesamtpaket – sofern es für ihn so weitergeht, wie es sich in Budapest angedeutet hat.

In Ungarns Hauptstadt erlebte der Mann mit deutschen und kamerunischen Wurzeln zwei Tage mit extrem viel Licht, aber auch ein paar Schatten. Unglücklicherweise reichten die weniger hellen Momente, um ihm den Traum von einer WM-Medaille zu rauben. Trotz Halbzeitführung musste er sich am Ende mit Platz fünf begnügen. Seine 8645 Punkte hätten noch 2019 in Doha zur Silbermedaille gereicht. „Die Punktzahl ist gut“, sagte Neugebauer später. „Es hätte besser laufen können, aber es war meine erste Weltmeisterschaft, bei der ich als Topfavorit gestartet bin, da kann ich mit Platz fünf nicht unzufrieden sein.“ Weltmeister wurde der Kanadier Pierce Lepage (8909) vor seinem Landsmann, dem Olympiasieger Damian Warner (8804), und Lindon Victor (Grenada/8756).

Neugebauer an der ersten Hürden hängen geblieben

Nach persönlichen Bestleistungen im Weitsprung und im Kugelstoßen war Neugebauer am Freitag mit 4604 Punkten ins Bett gegangen, selbst der spätere Weltmeister Lepage sah ihn schon in Richtung magischer 9000-Punkte-Marke marschieren. Doch am nächsten Morgen dann das böse Erwachen.

Im 110-Meter-Hürdensprint blieb er gleich an der ersten Hürde hängen, kam aus dem Tritt. „Meine Beine waren ein bisschen schwer“, sagte er am Ende des Tages. „Die andere Hälfte war der Kopf.“ Natürlich waren da Gedanken, was sein könnte. Schließlich stand er diesmal nach Tag eins noch besser da als im Juni, als er bei der NCAA-College-Meisterschaft mit deutschem Rekord von 8836 Punkten den Titel gewonnen hatte. Die Weltbühne ist eben doch etwas anderes. Vielleicht zollte er auch den zwei Saisonhöhepunkten Tribut, die er bestritten hat.

Neugebauer feiert mit dem Publikum und freut sich auf Olympia

Den Frust aus dem Hürdensprint nahm Neugebauer mit in den Diskusring. Dort fühlt er sich eigentlich pudelwohl. Doch die Entspanntheit des Schwaben, der sich selbst als „loggeren Tüpp“ bezeichnet, war dahin. Und nach zwei schwachen sowie einem ungültigen Versuch war auch die Medaille in weite Ferne gerückt. „Ich habe mich kurz geärgert, musste es aber abschütteln und mit einem neuen Gedanken in den Stabhochsprung gehen – das hat funktioniert.“ 

Der Spaß kehrte zurück – und die gute Leistung auch. Er genoss das Spiel mit dem Publikum, schickte hier und da eine Laola auf die Tribüne, auf der seine Familie und Freunde ihn unterstützten. In seinen mit Abstand schwächsten Disziplinen Speerwurf und 1500-Meter-Lauf konnte er zwar seine Position nicht mehr verbessern, aber er lieferte Bestleistungen ab – viel mehr ging nicht. Neugebauer wusste das und schon beim Zieleinlauf breitete er die Arme zum Jubeln in Richtung der Fans aus. Die feierten ihren neuen Star. „Die Stimmung in Europa ist unglaublich“, sagte der glückliche Fünfte. „Das wird in Paris bestimmt ähnlich, ich freue ich mich schon darauf.“

Mit Paris meint er die Olympischen Spiele, die im kommenden Jahr in Frankreichs Hauptstadt stattfinden. „Olympia bedeutet mir alles“, sagt Neugebauer, „dass ich jetzt daran denken kann, sogar um Medaillen mitzukämpfen, ist einfach verrückt.“ Leo Neugebauer ist auf der großen Bühne angekommen. Und das mit einem breiten Grinsen.