Essen. Fußballfunktionär Andreas Rettig im Gespräch über die attraktive Liga, die Herausforderung für Traditionsklubs und die Generation Z.

Wenn es um die Entwicklung des deutschen Fußballs geht, hat Andreas Rettig stets klare Vorstellungen. Der 60 Jahre alte Fußballfunktionär, einst Manager diverser Bundesligisten sowie von 2013 bis 2015 Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (DFL), gilt als einer der profundesten Kenner und Kritiker. Am Freitag (20.30 Uhr/Sat 1) startet die 2. Bundesliga in die Saison, Hamburger SV gegen Schalke 04. Viele sagen, der Unterbau sei wegen zahlreicher Traditionsklubs gar interessanter und emotionaler als die Bundesliga. Läuft die Zweite der Ersten Liga den Rang ab?

Herr Rettig, Hamburger SV gegen Schalke 04 – das wäre von den einstigen wirtschaftlichen Potenzialen und den Fanaufkommen beider Klubs her doch auch eigentlich eine gute Saisoneröffnung für die 1. Bundesliga gewesen, oder?

Andreas Rettig: Was mir überhaupt nicht gefällt in aktuellen Diskussionen – und das impliziert Ihre Frage –, ist diese vermeintliche Verzwergung der Bundesliga im Vergleich zur 2. Bundesliga, also das gegenseitige Ausspielen. Für mich ist im Profifußball immer noch die sportliche Leistungsfähigkeit die härteste und wichtigste Währung und nicht das Erheben von Vermarktungspotenzialen, mir geht es nicht um den Wettstreit der Follower und Social-Media-Potenziale der Klubs. Man hat ja in der vergangenen Saison gesehen, was das dem HSV gegen Heidenheim beim Anpfiff genutzt hat.

Hamburger SV gegen Schalke 04 - das denkt Andreas Rettig über den Start der 2. Bundesliga

Mir ging es mehr um den Klang der Partie, da schwingt mehr Bundesliga als Zweite Liga mit.

Der FC St. Pauli war für Andreas Rettig bis 2019 die letzte Station als Manager im Profifußball.
Der FC St. Pauli war für Andreas Rettig bis 2019 die letzte Station als Manager im Profifußball. © DPA

Andreas Rettig: Gut, ich finde es nur generell despektierlich gegenüber den Heidenheims und Darmstadts dieser Welt. Da wird kontinuierlich, kompetent und mit deutlich weniger Mittelaufwand gearbeitet als bei den Mitbewerbern. Und sie kriegen dann am Ende zu hören, dass sie eigentlich Zwerge sind und nichts zum Vermarktungserfolg der Bundesliga beitragen. Sie sind aufgestiegen, sie haben sich das verdient. Als bekennendes und zahlendes Mitglied meines Lieblingsvereins Rot-Weiss Essen weiß ich zu gut, dass lange Zeit in den Niederungen der Regionalliga zum Erfolg nicht verholfen hat, wie viele Fans und Mitglieder die Daumen drücken. Am Ende wird es auf dem Platz entschieden.

Genau deshalb sind wir vom Bundesliga-Auftakt zwischen dem HSV und Schalke sehr weit weg – einer der beiden Klubs hätte dafür ja vorher Meister werden müssen. Was, glauben Sie, tritt eher ein: dass beide Klubs gleichzeitig wieder in der Ersten Liga spielen oder die Bayern mal nicht die Schale gewonnen haben?

Andreas Rettig: Ich habe ja bekanntermaßen eine kritische Distanz zum Branchenführer. Deshalb hoffe ich, dass das Zweite eher der Fall ist.

Trauen Sie Schalke und Hertha, was für beide eine enorme wirtschaftliche Bedeutung hätte, die sofortige Rückkehr zu?

Andreas Rettig: Auch wenn ich als Essen-Fan den Königsblauen nicht ganz so fest die Daumen drücken kann (lacht), ist Schalke für mich der Topfavorit. Ich befürchte, die „Alte Dame“ aus der Hauptstadt ist ein wenig in die Jahre gekommen. Für mich sind eher Düsseldorf, Hannover und natürlich St. Pauli Mannschaften, die überraschen können.

Für Andreas Rettig ist Schalke der Aufstiegsfavorit

Schalke ist für Sie Aufstiegsanwärter Nummer eins?

Andreas Rettig: Schalke hat das zuletzt alles gut gemanagt; dass der Trainer selbst nach dem Abstieg an einem so emotionalen Standort nicht schon verbrannt ist, spricht Bände. Für Thomas Reis, aber auch für die Besonnenheit und Ruhe. Das war ja schon mal anders auf Schalke. Ein Grundvertrauen in die sportliche Führung und die positive Grundstimmung sind Zutaten, mit denen man erfolgreich sein kann.

Vor zwei Jahren ist den Königsblauen der sofortige Wiederaufstieg gelungen. Wie schwierig ist dies rein sportlich, es sind ja völlig unterschiedliche Voraussetzungen?

Andreas Rettig: Für mich sind die Unberechenbarkeit und die Leistungsdichte die großen Unterschiede von der Ersten zur Zweiten Liga. Die Bundesliga leidet unter dem fehlenden Spannungsmoment: Wenn ich in die Tabellen der vergangenen fünf Jahre schaue, finde ich dort immer Bayern, Dortmund und RB – das hat nur Leverkusen einmal durchbrochen. Die Attraktivität der 2. Bundesliga – aber auch die Schwierigkeit, die sie dadurch ausmacht –, sind diese kleineren Leistungsunterschiede zwischen den Klubs. Dass jeder jeden schlagen kann, trifft in der Bundesliga kaum noch zu. Genau das kann aber für die vermeintlich großen Zweitligisten zum Problem werden. Ich komme jetzt noch mal auf Ihre Eingangsfrage zurück.

Inwiefern?

Andreas Rettig: Diese Zweite Liga wird zurecht gehypt. Das kann man mit Fakten unterfüttern: In dieser Saison finden sich dort mehr Gründungsmitglieder der Bundesliga als eine Klasse darüber, nämlich sieben. Schaue ich mir den ersten Spieltag an: Nur die Anstoßzeit von 13 Uhr am Samstag erinnert mich an die Zweite Liga. Bis auf Wiesbaden gegen Magdeburg sind in allen anderen Paarungen ehemalige Bundesligisten auf dem Platz. Und in der übrig gebliebenen Partie haben wir sogar noch einen Europapokalsieger aus der damaligen DDR dabei. Da ist der Ausgang sehr offen. Also, wenn ich es mal etwas flapsig formulieren darf: Für mich ist die 2. Bundesliga noch unberechenbarer als Friedrich Merz derzeit.

Das will etwas heißen. Schalke 04, Hamburger SV, Hertha BSC, FC St. Pauli, 1. FC Kaiserslautern, Hannover 96, Fortuna Düsseldorf, 1. FC Nürnberg oder Eintracht Braunschweig an. Was ging schief, dass diese Traditionsklubs der 1. Liga verloren gingen?

Andreas Rettig: Das ist leider das Phänomen bei den Traditionsvereinen, die eine ganz andere Emotionalität und Wucht haben: Dort ist, ich sage es vorsichtig, die Meinungsvielfalt ein bisschen größer. Das kann dazu führen, dass sich Entscheidungsträger zur Unvernunft treiben lassen, dem Druck des Boulevards folgen und nicht nachhaltig verantwortungsbewusst handeln. Verantwortungsvolles Management hört nicht mit dem Ende der eigenen Vertragslaufzeit auf. Unter Druck noch mal die Millionen rauspfeffern, um womöglich den eigenen Hintern zu retten, und eine Kasino-Mentalität, alles auf Rot oder Schwarz zu setzen, zeugt nicht von weitsichtigem Management. Für mich war bei allen Stationen immer wichtig, über die eigene Vertragslaufzeit hinaus zu denken und zu handeln.

Warum Andreas Rettig nicht mit dem Hamburger SV trauert

Andreas Rettig war von 2013 bis 2015 Geschäftsführer der DFL.
Andreas Rettig war von 2013 bis 2015 Geschäftsführer der DFL. © DPA

Nürnberg und Hannover sind sportlich schon länger nicht mehr in der Nähe einer Bundesliga-Rückkehr. Der HSV ist in den vergangenen fünf Jahren immerhin zweimal erst in der Relegation gescheitert. Sind die Hamburger nur noch oben dabei, weil Klaus-Michael Kühne immer noch viel Geld in den Klub pumpt?

Andreas Rettig: Als alter Sankt-Paulianer ist meine Trauer, was den HSV angeht, natürlich nicht so sehr ausgeprägt. (lacht) Aber natürlich: Es liest sich normaler, den HSV in der Bundesliga statt in der Zweiten Liga zu haben. Wem ich im Derby aber die Daumen drücke, ist auch klar.

Salomonisch formuliert, Herr Rettig.

Andreas Rettig: Um Ihre Frage zu Klaus-Michael Kühne zu beantworten: Was brauchen Sie denn am Ende für sportlichen Erfolg? Kompetenz, Kontinuität und Kapital. Die Mischung muss stimmen. Wenn Sie kompetent sind, aber keine Kontinuität haben, fressen Sie Kapital auf. Es wird Gründe geben, warum man immer nach fremdem Geld von Herrn Kühne schreien muss.

Vereine wie der FSV Mainz 05 und FC Augsburg haben sich in der Bundesliga etabliert, Union Berlin spielt in dieser Saison in der Champions League, der VfL Bochum hat jetzt schon zweimal die Klasse gehalten. Haben Darmstadt und Heidenheim eine realistische Chance auf einen ähnlichen Werdegang?

Andreas Rettig: Ich kann mir das vorstellen. Als wir mit Augsburg aufgestiegen waren, gab es auch schon den Abgesang: Diese Eintagsfliege sehen wir in der nächsten Saison eine Klasse tiefer wieder. Das war vor zwölf Jahren. Ich hoffe, dass dies eine Blaupause für andere sein kann. Aber es ist von Jahr zu Jahr schwieriger geworden, weil die Solidarität durch die Geldverteilung immer mehr in eine Schieflage geraten ist. Mit einem Augenzwinkern an die Adresse von Aki Watzke (BVB-Geschäftsführer und DFL-Aufsichtsratsvorsitzender, d. Red.): Ich hoffe sehr, dass die Zweite Liga aufgrund ihrer gestiegenen Popularität nicht die Bundesliga durch Solidaritätsaktionen unterstützen muss (lacht).

Andreas Rettig: Geld aus der Champions League ist Sargnagel für Attraktivität der Bundesliga

Dem Erstligafußball traut man Überraschungen ja kaum noch zu, zu sehr haben die Verteilung der TV-Gelder und die Einnahmemöglichkeiten in der Champions League die Kraftverhältnisse zementiert.

Andreas Rettig: Das ist genau der Punkt. Das Geld aus der Champions League ist für mich ein schleichendes Gift, der Sargnagel für die Attraktivität der Liga. Das ist mit noch so klugem Management nicht zu kompensieren. Wenn der VfL Bochum dem FC Bayern wie vor eineinhalb Jahren beim 4:2 dann doch mal ein Bein stellen kann, obwohl in München circa siebenmal mehr Mittel eingesetzt werden, sind das die Ringeltäubchen, nach denen wir uns alle sehnen, aber nicht die Normalität.

Die DFL hat die Medienrechte ab der Saison 2025/26 ausgeschrieben, die neue Führungsspitze rechnet mit geringeren Einnahmen. Sind die goldenen Zeiten für den Fußball vorbei?

Andreas Rettig: Immerhin habe ich in letzter Zeit keine goldenen Steaks mehr gesehen, das ist schon ein Schritt nach vorne. Ich bin bei dieser These mit dem Ansatz nicht einverstanden: Es wurde Jahr für Jahr nach mehr Geld geschrien. Ich denke aber, wir sollten den Blick nicht nur auf die Erlössteigerung lenken, sondern auch auf die Kostensituation. Wir haben uns leider in ein Rattenrennen begeben, das auf lange Sicht keinen Erfolg versprechen kann. Eines der Qualitätsmerkmale des deutschen Fußballs ist die wirtschaftliche Vernunft. Bisher ist noch keinem Bundesligisten während der Saison die Luft ausgegangen. Wir müssen aber Bodenständigkeit und Nahbarkeit wieder zurückgewinnen. Wir lassen uns jedoch von Staatsfonds und Oligarchen treiben, der eine oder andere Klub macht diesen wirtschaftlichen Unsinn mit. Diesen Wettstreit können Sie aber niemals gewinnen. Die Herren Neymar, Mbappé und Haaland werden nicht für eine Ablöse von 400 Millionen Euro in der Bundesliga spielen, weil der Scheich oder wer auch immer halt dann 500 Millionen bezahlt.

Es gibt die Gedanken, dass die 2. Bundesliga sich selbst vermarkten soll. Wäre dies eine Chance für die Vereine, die wirtschaftlichen Lücken eher zu schließen und im Falle des Aufstiegs sich oben festsetzen zu können?

Andreas Rettig: Nein. Jetzt einen eigenen Weg zu gehen, würde ich nicht als kluge Entscheidung empfinden. Im Gegenteil: Die 2. Bundesliga hat vielleicht jetzt die Möglichkeit, durch ihre gestiegene Attraktivität einen höheren Solidarbeitrag in der Gesamtvermarktung einzubringen.

Wenn sich die Kinder heute vorwiegend nur noch für Stars wie Kylian Mbappé und Erling Haaland interessieren und weniger für die Klubs dahinter, wird es für Schalke, HSV und Co. noch schwieriger als ohnehin schon, junge Fans zu gewinnen, oder?

Andreas Rettig: Ich wurde vor Jahren ausgelacht, als ich gesagt habe: Wir müssen dem Profifußball eine neue DNA verpassen, die gesellschaftliche Verantwortung muss einen viel größeren Stellenwert bekommen. Nicht, um einfach nur Gutes zu tun, sondern auch aus Gründen der Selbsterhaltung. Oder glauben Sie, dass die Generation Z freitags mit Friday for Future auf die Straße geht, um dann samstags im Stadion die Goldsteaks auf dem Rasen zu bejubeln? Wenn wir also den Unsinn richtigerweise mal nicht mehr mitmachen, um die Haalands halten zu können, müssen wir die Zielgruppen anders emotionalisieren und binden. Womöglich sagt dann die Generation Z: Es mag nicht der beste Fußball sein, der da gespielt wird – aber ich kann mich mit den Themen rund um diesen Fußball identifizieren. Diesen Ansatz müssen wir viel mehr in den Vordergrund rücken als ein Wetteifern um Stars, die heute hier und morgen dort sind.