Hamburg. Ein Jahr vor Olympia in Paris spricht IOC-Präsident Bach über Nachhaltigkeit, ukrainische Träume und eine Bewerbung aus Deutschland.

Der erste Test am Montag ist gelungen und lässt ein Spektakel erwarten. Wenn im nächsten Juli die Olympischen Sommerspiele in Paris eröffnet werden, laufen die Athletinnen und Athleten dabei erstmals nicht in ein Stadion ein. Sie werden auf mehr als 100 Booten kilometerlang die Seine herunterfahren und von Hunderttausenden bejubelt. Ein Spektakel, auf das auch Thomas Bach gerne zu sprechen kommt, als der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees mit handverlesenen Medien zum Gespräch in einem Hamburger Hotel lädt. Am 26. Juli ist es noch genau ein Jahr bis zur Eröffnungsfeier – bis dahin müssen der 69 Jahre alte Fecht-Mannschaftsolympiasieger von 1976 und das IOC noch so manches Problem aus dem Weg räumen.

Herr Bach, nur noch etwas mehr als ein Jahr bis zu den Sommerspielen. Was sind gerade Ihre Gedanken bezüglich Paris?

Thomas Bach: Die Erwartungen an Paris sind groß, in jeder Hinsicht. Die Menschen wollen nach zwei Spielen ohne Zuschauer und unter Pandemiebedingungen wieder zusammenkommen und dieses Festival feiern.

Werden es sozusagen von Corona befreite Spiele?

Thomas Bach: Es werden die ersten Spiele, die nach den Reformen der Olympischen Agenda 2020 geplant und umgesetzt werden. Deshalb sprechen wir von Olympischen Spielen einer neuen Ära.

Symbole über Symbole. Paris bereitet sich auf die Olympischen Spiele 2024 vor
Symbole über Symbole. Paris bereitet sich auf die Olympischen Spiele 2024 vor © dpa

Ein großer Begriff. Was verstehen Sie konkret darunter?

Thomas Bach: Es werden nachhaltige Olympischen Spiele sein. Paris 2024 plant, den CO2-Fußabdruck der Spiele um die Hälfte zu reduzieren, verglichen mit dem Durchschnitt von London 2012 und Rio 2016. 95 Prozent der Sportstätten sind entweder vorhanden oder temporär. Es werden urbane Spiele sein mit Wettkämpfen um den Eiffelturm, um den Place de la Concorde, mitten in Paris. Wir haben den Anspruch, dass nicht irgendwo außerhalb der Stadt Stadien gebaut werden und wir darauf warten, dass die Leute zum Sport strömen. Wir müssen insbesondere im Hinblick auf die junge Generation dorthin gehen, wo sie sich ist – sei es in der realen oder virtuellen Welt. Bei diesen Spielen werden die Menschen nicht bloß Zuschauer sein, sondern engagierte Teilnehmer. Am Tag des Marathons können 40.000 Französinnen und Franzosen selbst ein Rennen auf der olympischen Strecke laufen. Es werden jugendlichere Spiele sein – und die ersten mit Geschlechterparität, also 50 Prozent weiblichen und 50 Prozent männlichen Athleten. Wir werden allen zeigen, dass diese Spiele nicht wie ein Raumschiff in Paris landen und dann wieder verschwinden, sondern ein Teil der Gesellschaft sind.

Das klingt alles nach dem Versuch einer Frischzellenkur für das ramponierte olympische Image. Immerhin freut man sich in Deutschland, dass diese und nachfolgende Spiele wieder an westliche Demokratien vergeben wurden. Teilt das IOC diese Freude, oder sind die Austragungen ebendort mittlerweile anstrengender, weil sie mit Protesten einhergehen?

Thomas Bach: Wir freuen uns auf Spiele einer neuen Ära in Paris. Danach wird Los Angeles 2028 sicher in anderer Hinsicht wieder neue Maßstäbe setzen. Dort werden wir anhand der fortgeschrittenen Digitalisierung sehen, welches Potenzial darin für eine noch nachhaltigere Organisation der Spiele und für eine noch direktere Kommunikation mit den Fans in aller Welt steckt. Das steht mit dem Austragungsort nicht in Verbindung.

Wenn wir nachhaken dürfen: Die Organisatoren haben aber angekündigt, dass sie sehr wohl mit teilweise großen Störungen rechnen nach all dem, was wir in den vergangenen Wochen in Paris gesehen haben. Ist das IOC auf derlei Probleme vorbereitet?

Thomas Bach: Die sozialen Unruhen in den vergangenen zwei Jahren in Frankreich standen nicht im Zusammenhang mit den Spielen. Die Organisation hat auch da schon neue Maßstäbe gesetzt: Es gibt einen Sozialpakt zwischen dem Organisationskomitee und den Gewerkschaften, die zusichern, dass die Spiele nicht Gegenstand ihrer sozialen und tarifpolitischen Auseinandersetzungen sein werden.

Gewerkschaften sind das eine, die Volksseele ist etwas anderes. Zuletzt hat man erschreckende Bilder aus Paris gesehen. Hat sich an Ihrer Gefühlslage ein Jahr vor den Spielen etwas verändert?

Thomas Bach: Man spürt die tiefliegenden sozialen Spannungen, die jetzt nicht zum ersten Mal eruptiert sind. Jedoch sehen wir auf der anderen Seite, dass die Spiele in Frankreich auf eine breite Zustimmung stoßen und kein primäres Ziel für Proteste sind. Was Sie nie ausschließen können, ist, dass aus einem anderen Grund derartige Unruhen wieder ausbrechen – was wir nicht hoffen wollen. Aber das liegt nicht in unserer Macht.

Es ist gut, dass das IOC auf Nachhaltigkeit achten will. Inzwischen erreichen die Aktionen von Klimaaktivisten auch Sportveranstaltungen. Droht Olympia als Protestbühne benutzt zu werden?

Thomas Bach: Olympia wird aufgrund der weltweiten Aufmerksamkeit immer von allen möglichen Interessengruppen als Kommunikationsplattform zu benutzen versucht. Auch in Paris wird es sicherlich die eine oder andere Kritik geben. Ob und wieweit es zu Protesten kommt, kann ich nicht sagen und will ich auch nicht herbeireden. Ich glaube nur, dass sich bis in einem Jahr auch bei den Klimaaktivisten die Meinung durchsetzen wird – wie man das ja hierzulande langsam sieht –, dass diese Art von Störaktionen ihrem Anliegen nicht unbedingt neue Unterstützer zutreibt und deshalb dann Olympia ungestört ablaufen kann.

Klimaschutz ist ein Ansatz, mit dem sich gerade bei den jungen Menschen Akzeptanz für olympischen Sport erzeugen lässt. Vielen ist nicht mehr wichtig, wer der Rekordhalter ist, wer die Goldmedaille gewinnen wird; das Interesse am Sport ist laut jüngsten Beobachtungen rückläufig. Lässt sich mit Nachhaltigkeit da gegensteuern?

Thomas Bach: Bezüglich Ihres ersten Teils der Analyse kann ich das höchstens als willkommenen Nebeneffekt bezeichnen. Im Sport sind wir – wie alle anderen auch – von Klima und Umwelt abhängig. Deshalb ist unser Ansinnen hier ein sehr authentisches und originäres. Es steht im Einklang mit dem Ansinnen einer breiten Bewegung in der Jugend und der Gesellschaft. Aber unser primäres Ziel ist es, dass man auch in Zukunft Sport in der Natur betreiben kann und dass unsere Sportveranstaltungen nachhaltig organisiert werden. Der Sport ist ein natürlicher Partner beim Klimaschutz.

Trotzdem nimmt das Interesse der Jugend am Sport ab.

Thomas Bach: Auch wir beobachten, was Sie im Grunde ansprechen: die Frage, ob die Jugend sich noch an Leistung orientiert. Dafür gibt es sehr unterschiedliche Herangehensweisen, die auf unterschiedlichen Kulturen beruhen. Es gibt nicht die eine Jugend; in der Grundtendenz sehen Sie in Asien oder Afrika sehr viel mehr Leistungsorientierung und Vorbildwirkung durch Leistung als in dem einen oder anderen europäischen Land. Was man sehr genau sieht, ist eine Abkehr vom gewohnten Konsum von Sport und Spielen sowie eine stark verringerte Aufmerksamkeitsspanne. Ich habe in meiner Jugend von morgens bis Mitternacht vor dem Fernsehgerät gesessen und Olympische Spiele verschlungen. Heute schauen sich Jugendliche zweimal am Tag die Kurzzusammenfassung auf YouTube an. Zudem gibt es eine Konzentration auf einzelne, für Fans attraktive Athleten, mit denen es eine direktere Kommunikation und größere Identifikation gibt als mit einem ganzen Olympia-Team.

Die Jugend wird aber auch nicht aktiver in den Livesport eingebunden, wenn die Eintrittspreise so hoch sind und sich der Besuch von olympischen Wettbewerben für Familien und junge Menschen als nicht bezahlbar herausstellt.

Thomas Bach: Bezahlbar ist das Stichwort, es muss auch für die Organisation bezahlbar sein. Die Eintrittspreise der Olympischen Spiele sind im Schnitt geringer als bei vergleichbaren Sportveranstaltungen – und sie sind nicht höher als bei vorherigen Spielen. Für 2024 werden zehn Millionen Tickets verkauft. Rund fünf Millionen davon kosten 50 Euro oder weniger, insgesamt sind 65 Prozent der Tickets für 100 Euro oder weniger und 90 Prozent für 200 Euro oder weniger zu haben. Nur: Die günstigen Tickets waren natürlich auch schnell vergriffen. Vergleichen Sie das einmal mit den Ticketpreisen bei einem Champions-League-Finale oder einem Formel-1-Rennen.

Hinter dem IOC liegt eine Reihe kontrovers diskutierter Winterspiele, zuletzt in Peking. In Paris wird es kaum weniger problematisch, schließlich steht noch ein ukrainischer Boykott im Raum.

Thomas Bach: Ich bin der festen Überzeugung, dass den ukrainischen Sportlerinnen und Sportlern die Chance gegeben wird, in Paris zu sein, um auf einer derartigen Weltbühne mit mehreren Milliarden von Zuschauern den Stolz und die Widerstandsfähigkeit ihres ganzen Volkes zu zeigen. Ich glaube, diesen Olympia-Traum wird ihnen die Regierung nicht verwehren, weil es auch nicht von Vorteil wäre für die Ukrainerinnen und Ukrainer.

Nicht von Vorteil?

Thomas Bach: Stellen Sie sich die ukrainische Mannschaft auf dem Boot vor, wenn Sportlerinnen und Sportler bei der Eröffnungsfeier von Hundertausenden Zuschauern an der Seine und etwas mehr als einer Milliarde Fernsehzuschauern begrüßt werden. Das ist ein Moment, den sich die Ukraine sicher nicht entgehen lassen möchte.

Russische und belarussische Athletinnen und Athleten werden noch versuchen, sich für Paris zu qualifizieren. Das IOC hat beiden Nationalen Olympischen Komitees bislang keine Einladung für die Spiele zukommen lassen. Können die sich trotzdem Hoffnung auf einen Start machen?

Thomas Bach: Das ist klar formuliert: Wir haben immer von individuellen, neutralen Athleten gesprochen und nicht von einer russischen oder belarussischen Mannschaft, die antreten kann. Das jeweilige NOK repräsentiert eine russische oder eine belarussische Mannschaft. Sie nach Paris zu holen, würde in Russland als Einladung eines russischen Olympia-Teams interpretiert werden. Die individuellen Athleten konnten wir nicht einladen, weil sie noch nicht qualifiziert sind und weil wir über deren Zulassung noch nicht entschieden haben.

Wann wird es so weit sein? Gibt es eine Frist wie Weihnachten, oder ist es sogar noch im Mai möglich?

Thomas Bach: Da will ich mich nicht festlegen. Das ist abhängig von zwei Faktoren: wie jetzt die Qualifikationen rein sportlich verlaufen und wie sich alle Beteiligten an Buchstabe und Sinn dieser strikten Konditionen halten. Bisher hat keiner versucht, heimlich etwas mit den Farben oder der Fahne zu veranstalten. Das wollen wir aber über einen längeren Zeitraum und in mehreren Sportarten beobachten.

Wenn sich also ein russischer oder belarussischer Sportler qualifiziert, heißt das noch lange nicht, dass er auch in Paris dabei ist?

Thomas Bach: Richtig. Das steht so ja auch in der Empfehlung vom 28. März. Wir werden das unabhängig von der sportlichen Qualifikation bewerten müssen.

Wie wollen Sie deren Neutralität sicherstellen und überprüfen?

Thomas Bach: Das passiert schon durch die internationalen Fachverbände. Sie beauftragen in der Regel eine auf den Schutz der Integrität des Sports spezialisierte und vom Sport unabhängige Firma. Sie teilt dann den Verbänden das Urteil dieser Überprüfungen mit. Bei der Taekwondo-Weltmeisterschaft hat es zum Beispiel dazu geführt, dass neben einer Reihe anderer auch zwei russische Olympiasieger von Tokio nicht zugelassen wurden. Das ist ein eingespieltes Verfahren über diese unabhängige Firma.

Überprüft das die IOC auch die Überprüfer? Nachher wird ein Athlet für Paris zugelassen, von dem dann doch noch ein Foto mit Wladimir Putin aus dem Jahr 2017 auftaucht.

Thomas Bach: Sie können sich darauf verlassen: Die Ukraine leistet einen großartigen Beitrag, damit alle Informationen vorliegen.

Sie haben zuletzt Ihre Befürchtung geäußert, dass in der Zukunft globale Sportevents wie die Olympischen Spiele unter Umständen nicht mehr möglich sein werden wegen der politischen Polarisierung auf der Welt.

Thomas Bach: Dieses Worst-Case-Szenario müssen wir im Auge behalten, weil wir sehr deutlich diese Spaltungstendenzen sehen. Es gibt auch im Westen das eine oder andere Land, das sagt: Nur noch mit unseren Verbündeten, mit denen wir uns einig sind und gut verstehen. Wenn Sie das weiterdenken, kommen Sie zu Blockspielen: Am Ende gibt es dann nur noch EU-Games, aber selbst hier sind sich ja nicht alle einig. Es muss unser Bestreben sein, dem entgegenzuwirken und unsere Herangehensweise verständlich zu machen, was in dieser politisch sehr aufgeheizten Situation nicht einfach ist. Die Beschimpfungen aus Russland reichen bis zu Nazi-Vorwürfen – gleichzeitig gibt es die Unzufriedenheit der ukrainischen Führung bezüglich unserer Herangehensweise. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das am Ende in Paris bewältigt und eine breite Beteiligung haben werden.

Im Raum stehen trotzdem schon Konkurrenzspiele der Russen, die im Anschluss ausgetragen werden und Befürworter haben sollen. Sehen Sie darin eine Bedrohung für die Olympischen Spiele?

Thomas Bach: Man muss schon sehr genau unterscheiden, was in der Öffentlichkeit kommuniziert wird und wie groß die Substanz dahinter letztlich ist. Die NOKs anderer Länder sind jedenfalls bisher bei solchen Bemühungen nicht eingebunden worden, sie stehen loyal zu den Olympischen Spielen. Im Übrigen ist die ganze Planung für eine Alternative zu Olympia derart entlarvend, dass sie selbst in politischen Gefilden nicht auf großen Widerhall stößt. Uns wird von der russischen Regierung vorgeworfen, wir politisieren mit der Entscheidung zu den neutralen Athleten die Spiele; dieselbe Regierung sagt, sie trete dieser Politisierung mit von Putin ausgerufenen Spielen entgegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das große Anziehungskraft haben wird. Blockspiele stehen allem entgegen, wofür der internationale Sport steht. Deshalb müssen wir äußerst wachsam bleiben.

Der Deutsche Olympische Sportbund hat nun Überlegungen angeregt, ob sich Deutschland in naher Zukunft noch mal um die Austragung Olympischer Spiele bewerben soll. Gibt es da eventuell schon einen Dialog mit der Future Host Commission des IOC, die über die Vergabe entscheidet?

Thomas Bach: Nein, aber wir sehen mit Freude, dass hier zumindest eine positive Grundstimmung vorhanden ist, über Olympische Spiele nachzudenken. Im Moment ist eine rein nationale Angelegenheit, ob die Spiele hier stattfinden sollen. Man muss jedoch wissen: Die Konkurrenz für Deutschland wird sehr stark sein, denn es gibt bereits eine gute zweistellige Zahl von Interessenten, sie sich in Konsultationen mit der Vergabe-Kommission befinden.