Düsseldorf. Jürgen Kessing, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, spricht sich für eine Bewerbung um Olympische Spiele aus – und nennt Gründe.
Jürgen Kessing (66) macht zwischen Donnerstag und Sonntag einen Spagat – wenn auch nicht im turnerischen Sinne. Am Donnerstag noch sah er sich die Deutsche Meisterschaft im Stabhochsprung der Frauen am Rheinufer in Düsseldorf als Teil des Multisport-Events Die Finals an. Am Wochenende geht es nach Kassel, wo die übrigen Deutschen Meister der Leichtathletik gesucht werden. Seit 2017 ist der SPD-Politiker und Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen Präsident des Deutschen Leichtathletik Verbandes.
Herr Kessing, der Großteil der Finals wird in Duisburg und Düsseldorf ausgetragen, die Leichtathletik sucht ihre Besten in Kassel. Wie erleben Sie das?
Jürgen Kessing: Zwiespältig. Wir haben ja eine Disziplin, den Stabhochsprung, ausgelagert – der Rest findet in Kassel statt. Das liegt einfach daran, dass es derzeit kein Stadion in Nordrhein-Westfalen gibt, in der man Deutsche Meisterschaften durchführen kann. Das wird in den nächsten Jahren hoffentlich besser mit dem Stadion in Wattenscheid.
Sehen Sie es als gutes Zeichen, dass es diesen Ausbau im Lohrheidestadion gibt?
Unbedingt. Wir brauchen die Stadien in der Größe von 15.000 und 25.000 Zuschauern. Die können wir gut füllen: Kassel ist ausverkauft, was die Sitzplätze angeht. Es gibt nur noch wenige Stehplatzkarten für Samstag und Sonntag, da sind wir hochzufrieden.
Da hat man im Vergleich zum beinahe leeren Olympiastadion in Berlin im vergangenen Jahr vermutlich ein besseres Gefühl?
Das war nicht so schön, weil die ganzen Angebote um das Olympiastadion herum kostenfrei waren und der Eintritt ins Olympiastadion halt gekostet hat – davon haben viele Leute keinen Gebrauch gemacht. Deswegen gehen wir gerne in kleine Stadien. Da ist die Atmosphäre deutlich familiärer, man ist viel näher dran. Die Menschen stimmen mit den Füßen ab und kommen zu den kleineren Orten wie Kassel oder auch später Wattenscheid.
Im August steht die WM in Budapest an – was erwarten Sie? In Eugene im vergangenen Jahr lief es mit nur einmal Gold und einmal Bronze ja nicht so prächtig.
Ja, ich bin ja froh, dass wir erst dort nicht so stark, anschließend bei den Europameisterschaften in München aber so erfolgreich waren. Wenn es umgekehrt der Fall gewesen wäre, hätte man weitere Erklärungsnöte gehabt. Wir haben das nun aufgearbeitet. Wir arbeiten daran, dass wir mehr mit allen reden, und ich denke, wir haben so zehn bis zwölf Medaillenchancen. Wenn wir dann so drei, vier oder fünf holen, ist das eine tolle Sache. Aber man sieht auch: Wir konkurrieren mit 208 anderen Nation weltweit. Das Wissen ist überall verfügbar, die Trainingsbedingungen sind woanders unter Umständen sogar noch besser als bei uns, obwohl die Unterstützung durch Bund und Länder und Kommunen sehr, sehr gut ist, aber immer noch steigerungsfähig.
Der DLV selbst hat sich ja auf die Fahne geschrieben, da ein bisschen was zu verändern, enger mit Athleten und Trainern auch zusammenzuarbeiten. Wie läuft das so?
Ja, wir probieren vieles aus. Früher war ich immer skeptisch, wenn ein Athlet ins Ausland gegangen ist – heute profitieren wir von der Entwicklung der Athleten dort. Ich weiß nicht, ob Leo Neugebauer bei uns so eine schnelle Entwicklung im Zehnkampf genommen hätte wie jetzt in Texas. Sein deutscher Rekord war sensationell.
Wenn Sie noch einmal auf die Finals gucken: Ist es künftig das Ziel, mehr in dieses Event auch vor Ort eingebunden zu sein?
Die Finals sind eigentlich in meinen Augen eher ein Fernsehprodukt. Da wird alles gezeigt, egal wo die einzelnen Disziplinen stattfinden. Schwimmen ist Berlin, Leichtathletik in Kassel und viele weitere an Rhein und Ruhr werden für den Zuschauer zusammengeführt.
Wie bei Olympia letztlich auch.
Genau, es ist ja wie ein Mini-Olympia.
Sind Sie ein Freund von diesem Format?
Also, ich muss da auch innerlich Abbitte leisten, aber am Anfang war ich eher ein bisschen skeptisch. Aber die Menschen stimmen mit den Füßen ab oder mit dem Daumen, wenn sie sie anschalten. Und wenn wir die Zuschauer insgesamt dafür gewinnen und begeistern können, wir die Sportarten unterstützen und am Ende wieder mehr Menschen selbst Sport treiben, dann haben alle gewonnen.
Bei den European Championships gab es zum Ende die Diskussion, ob die Leichtathletik noch weiter dabei sein soll. Wie sehen Sie das?
Ich denke, wir bleiben drin. Die Leichtathletik ist ja auch eine Lokomotive dieser Veranstaltungen. Es ist ja schon entschieden, dass die Europameisterschaften 2026 in Birmingham sind – und die Stadt bewirbt sich nun auch um die Championships.
Wir waren jetzt schon beim Mini-Olympia. Nun gibt es wieder konkrete Pläne, eine deutsche Olympia-Bewerbung auf die Bahn zu bringen – durch eine Umfrage der Bevölkerung und die Möglichkeit einer Bewerbung mit mehreren Orten. Wie stehen Sie dazu?
Wenn es die Chance gibt, Olympische Spiele nach Deutschland zu holen, dann wären wir die Letzten, die damit nicht einverstanden wären. Im Gegenteil: Ich finde, man kann nicht immer nur rummeckern, wenn Olympische Spiele an despotische Staaten vergeben werden, ohne selbst zu sagen: Okay, dann machen wir ein alternatives, nachhaltiges Angebot. Wenn ich das nicht mache, habe ich das Recht des Meckerns verwirkt. Insofern finde ich es gut, dass es hier die neuen Bestrebungen gibt. Die Entfernungen zwischen verschiedenen Städten oder Regionen sind nicht unüberwindbar – dann kann man das auch im Sinne der Nachhaltigkeit aufteilen und auf viele vorhandene Sportstätten zurückgreifen. Das war in München so, genauso könnte man in Duisburg Rudern, in Aachen Reiten, in Kiel Segeln und in Augsburg Wildwasserkanu anbieten. Da gibt es viele Möglichkeiten. Man kann die Transportwege verbessern, und da hätten wir alle was für die Zukunft davon.
Kann das Thema Infrastruktur auch ein Schlüsselargument sein, um Kritiker zu überzeugen?
Schauen Sie doch mal: Wo würde München heute stehen, wenn es nicht 1972 die Spiele gehabt hätte, wenn es nicht die U-Bahn und die ganze Infrastruktur gebaut hätte. Die Stadt würde im Verkehrschaos ersticken und hätte nicht den Charme, den sie heute hat. Trotz der Probleme, die es auch durch das Attentat gab, haben die Stadt und die Bewohner profitiert. Olympia ist ein Infrastrukturprogramm, und andere Länder nutzen das für sich. Warum sollen wir nur nebendran stehen und die Finanziers für andere sein? Wir können es auch selber brauchen. Unsere Infrastruktur ist dermaßen in die Jahre gekommen. Da wird es langsam Zeit, dass wir die wieder aufbereiten.
Also ist das Ihr Appell an die Bürger, wenn es zu einer Befragung kommt?
Das ist der Zahn der Zeit – und wenn ich die Bürger frage, dann muss ich sie auch überzeugen. Das ist vielleicht in der Vergangenheit ein bisschen zu kurz gekommen. Man hat gedacht, das ist ein Selbstläufer. Jetzt versucht man mit diesen Multisport-Events einfach den Menschen zu zeigen: Guckt mal, es geht. Es ist zu bewerkstelligen, es ist wunderschön, es sind tolle Rahmenbedingungen für Olympia. Da trifft sich die Jugend der Welt, und es ist auch ein Teil zum Friedensbeitrag – also alles, was uns wichtig ist, dann sollte man es auch mal wagen. Ich bin einer der Befürworter, dass wir uns darum bemühen, Olympia nach Deutschland zu bekommen.