Bremen. Hansi Flick wirkt nach dem 3:3 gegen die Ukraine und ein Jahr vor der Heim-EM zunehmend ratlos. Der Bundestrainer wirbt um Geduld.

Seine Pflicht auf dem Platz hatte Niclas Füllkrug am Montagabend schon um kurz nach 18 Uhr erledigt, wobei er diesmal relativ wenig dafürkonnte. Aber angeschossen zu werden, das seien „oft die schönsten Stürmertore“, sagte der Angreifer später, der als fünfter Deutscher überhaupt in fünf aufeinanderfolgenden Länderspielen traf. „Ja?“, fragte Füllkrug erstaunt. „Das wusste ich gar nicht.“

Deutlich schlagkräftiger reagierte der 30 Jahre alte Spätberufene dann, als er den Unmut auf den Tribünen „seines“ Weserstadions erklären sollte. „Das Bremer Publikum ist halt qualitativ sehr hochwertigen Fußball gewohnt“, meinte der Stürmer des SV Werder. „Deswegen kamen da wahrscheinlich auch ein paar Pfiffe.“

Das Problem der DFB-Elf war am Montag nämlich, dass das 1000. Länderspiel gegen die Ukraine nach Füllkrugs frühem Tor (6.) noch 84 Minuten andauerte – und in diesen verpasste die Mannschaft von Bundestrainer Hansi Flick wieder mal, für die ein Jahr vor der Europameisterschaft so dringend benötigte Aufbruchstimmung zu sorgen. Am Ende trennte sich das deutsche Team im Benefiz-Spiel von der Ukraine schmeichelhaft mit 3:3.

Havertz und Kimmich retten Remis

Zwei Treffer von Viktor Zygankow (18./56.) und ein Eigentor durch Antonio Rüdiger ließen die Gäste mit einer 3:1-Führung in die Schlussphase gehen, in der der eingewechselte Kai Havertz (83.) sowie Joshua Kimmich per Foulelfmeter (90.+1) immerhin noch ein Remis retten konnten. Und daher war Füllkrug im Kabinentrakt des Weserstadions auch „sehr froh, dass wir noch 3:3 gespielt haben und ich hier nicht stehen und ich ein paar andere Dinge erklären muss“.

Antonio Rüdiger (rechts) im Gespräch mit Niclas Füllkrug.
Antonio Rüdiger (rechts) im Gespräch mit Niclas Füllkrug. © dpa | dpa

Das war später eher die Aufgabe des Bundestrainers, der seit nunmehr zwei Jahren im Job ist und immer mehr in Erklärungsnot gerät, statt Fortschritte zu präsentieren. Mit acht Siegen in Serie war der 58-Jährige nach der verkorksten EM 2021 und dem Rücktritt von Dauer-Bundestrainer Joachim Löw ins Projekt Heimturnier gestartet. In den vergangenen 14 Partien allerdings gelangen bloß vier Erfolge: beim 5:2 in der Nations League gegen Italien – ein Ausschlag nach oben –, gegen den Oman (1:0), Costa Rica (4:2) und Peru (2:0). Dass Flicks Team die von der Debatte um die One-Love-Binde überschattete Weltmeisterschaft in den Wüstensand von Katar gesetzt hatte, hat man dem verdienten wie hochdekorierten Coach zugestanden – stattdessen zog der Verband auf der Sportdirektor-Position Konsequenzen und trennte sich von Oliver Bierhoff. Allmählich aber wird auch der Druck auf Flick größer. Die DFB-Elf ist ins internationale Mittelmaß abgerutscht.

DFB-Defensive mit haarsträubenden Aussetzern

„Das Spiel zeigt die Verfassung der Mannschaft“, gestand der Bundestrainer. „Man merkt, dass sie aktuell nicht mit der breiten Brust unterwegs ist. Daran müssen wir arbeiten. Es wird ein langer Prozess.“ Dabei wird die Zeit immer weniger, um haarsträubende Defensiv-Aussetzer abzustellen und eine alarmierend harmlose Offensive, die gegen die extrem kompakt stehenden Ukrainer kaum spielerische Lösungen gefunden hat, variabler auszurichten.

Bei allen drei „saudummen Gegentoren“ (Kimmich) war die DFB-Elf überfordert. Sinnbildlich war das 1:3, als der Dortmunder Julian Brandt Abwehrspieler Matthias Ginter mit einem hohen Rückpass ins offene Messer laufen ließ. Der Freiburger verschlampte die Ballannahme, Artem Dovbyk bedankte sich und legte dem starken Zygankow dessen zweites Tor auf. Das Experiment mit der neuformierten Dreierkette um Mittelmann Ginter, Nico Schlotterbeck von Borussia Dortmund, der in der Entstehung zweier Tore seinen Gegenspieler aus den Augen verloren hatte, und Real-Madrid-Profi Antonio Rüdiger ist jedenfalls gründlich danebengegangen. „Wir haben einen Plan, was das Ganze betrifft“, versicherte Flick jedoch. „Das werden wir weiter durchziehen.“ Schon am Freitag in Warschau (20.45 Uhr/ARD) wartet in Polen die nächste Prüfung. Am Dienstag folgt das Heimspiel in Gelsenkirchen gegen Kolumbien (20.45 Uhr/RTL).

DFB-Verteidiger Nico Schlotterbeck (rechts) im Duell mit dem Ukrainer Andriy Yarmolenko.
DFB-Verteidiger Nico Schlotterbeck (rechts) im Duell mit dem Ukrainer Andriy Yarmolenko. © dpa | dpa

Wie der von Flick angesprochene Plan genau funktionieren soll? Und wie der Bundestrainer noch bis zum Turnier einen Spielstil entwickeln will, der die Mannschaft weit bringt? Auf diese Fragen bleibt Flick weiterhin eine Antwort schuldig. Er erinnerte lieber an 2006. Da hatte die DFB-Elf im März mit 1:4 in Italien verloren „und es war eine wahnsinnig negative Stimmung. Trotzdem ist es ein Sommermärchen geworden.“ Flick wollte so erneut um Geduld werben, offenbarte gleichzeitig aber eine gewisse Ratlosigkeit, die auf die sportliche Leitung langsam alarmierend wirken dürfte.

Von EM-Vorfreude ist weiter keine Spur

Pfiffe der rund 35.000 Zuschauer beim symbolträchtigen Jubiläumsspiel, dazu bloß 4,5 Millionen Fernsehzuschauer, was aber auch daran lag, dass viele bei herrlichem Sommerwetter wohl Besseres zu tun hatten, als sich um 18 Uhr eine Testpartie anzusehen – von EM-Vorfreude, die der DFB eigentlich in Bremen erzeugen wollte, ist weiter keine Spur. Niclas Füllkrug, der Publikumsliebling, nicht nur in Bremen, wurde deutlich: „Wir können nicht immer quatschen und reden, sondern müssen zusehen, dass wir performen“, forderte er.

Kai Havertz, einer der Hoffnungsträger, tat das immerhin nach seiner Einwechslung. Auch Jamal Musiala und Florian Wirtz brachten Schwung. Das Trio, dem das Talent aus den Ohren wächst, hat das Potenzial, die Fans im kommenden Sommer und darüber hinaus zu begeistern. Wie Flick die Fähigkeiten aller drei gleichzeitig auf den Platz bringen möchte? Auch so eine Frage, die der Bundestrainer noch nicht beantwortet hat.