Essen. Marokko steht sensationell im Halbfinale der WM 22. Der frühere Bundesligaprofi Marc Wilmots erklärt, was den Außenseiter stark macht.

Der Belgier Marc Wilmots gehört zu den ausländischen Fußballern, die es geschafft haben, in der Bundesliga zu einer Marke zu werden. Der heute 53-Jährige wurde zu seinen besten Jahren beim FC Schalke 04 von Fans und Medien „Kampfschwein“ genannt, das galt bei den Königsblauen als Ehrentitel für den Mann, der auch zu den legendären „Eurofightern“ zählte, die 1997 überraschend den Uefa-Cup gewannen. Nach seiner Laufbahn war er Nationaltrainer von Belgien, der Elfenbeinküste und des Iran. Zuletzt hatte er in Marokko gearbeitet, er war Trainer des Raja Club Athletic in Casablance – allerdings nur von November 2021 bis Februar 2022. Obwohl er Erfolg hatte, zog er sich zurück. Der Grund: „Schlechte Organisation, viele Wechsel, Raja hatte in einem Jahr drei Präsidenten und sechs Trainer, ein reines Chaos.“ Er arbeitet nun beim belgischen TV – das WM-Überraschungsteam Marokko, das am Mittwoch (20 Uhr/ZDF) im Halbfinale gegen Frankreich steht, hat er sich genau angesehen.

Kommt Ihnen der Siegeszug der Marokkaner bei der WM wie ein Märchen vor?

Marc Wilmots: Absolut, doch es ist, wie wir alle wissen, keine Fiktion, sondern Realität. Eine unglaubliche Geschichte.

Sie haben bis Februar in Marokko gearbeitet, beim Renommierklub Raja Casablanca, kennen also die dortige Szene. Hätten Sie vor dem Start des Turniers einen derartigen Erfolg für möglich gehalten?

Auf keinen Fall, weil es rund um die Nationalelf eine gewaltige Unruhe gab, obwohl sie unter dem Bosnier Vahid Halilhodzic gute Ergebnisse geliefert und sich für des Weltturnier qualifiziert hatte. Doch der Coach hatte sich mit einigen Führungsspielern verkracht, beispielsweise mit dem Münchener Noussair Mazraoui. Es drohte, dass nicht die beste Mannschaft nach Katar fliegt.

Der frühere Schalke-Profi Marc Wilmots arbeitete zuletzt als Trainer in Marokko.
Der frühere Schalke-Profi Marc Wilmots arbeitete zuletzt als Trainer in Marokko. © dpa

Also kam es zum Knall?

Es kann sehr schnell gehen in Marokko. Fouzi Lekjaa, der Präsident des Verbandes, handelte. Überraschend warf er den Erfolgstrainer Halilhodzic raus, ohne zu zögern und trotz der immensen Proteste. So kam Walid Regragui ins Amt, aus heutiger Sicht gesehen ein Glücksgriff.

Der berufene Nationaltrainer hatte in Casablanca den Lokalrivalen Wydad trainiert. Hatten Sie Kontakt zu Regragui? Kennen Sie ihn persönlich?

Nein, das ging nicht. Wydad und Raja – es ist eine Konstallation wie im Ruhrpott zwischen Schalke und Dortmund. Da ist Vorsicht geboten. Ich habe aber seine Arbeit aus nächster Nähe verfolgen können. Er hat es bei Wydad gut gemacht, hatte Erfolg wie jetzt auch. Wie ich es beurteilen kann, ist er ein gewissenhafter Arbeiter und in jeder Hinsicht korrekt im Umgang.

Obwohl er nur eine kurze Vorbereitungszeit hatte, gelang es ihm anscheinend, eine stabile Nationalelf zu formen.

Entscheidend war, dass alle Nationalspieler wieder bereit standen, alle wieder wollten. Ihm ist es zudem gelungen, die mitunter existierende Kluft zwischen den einheimischen Profis und den zumeist im Ausland geborenen Legionären zu schließen. Regragui hat ein Kollektiv geschaffen. Die Truppe ist eine Einheit. Jeder rennt für jeden, jeder kämpft für jeden, jeder arbeitet für jeden – buchstäblich bis zum Umfallen, bis zu Krämpfen. Es erinnert mich irgendwie an Schalke, unsere Geschichte von 1997 mit den Eurofightern.

Sehen Sie keinen herausragenden Individualisten im Team des sensationellen Halbfinalisten?

Das habe ich so nicht gesagt. Marokko besitzt überdurchschnittliche Einzelkönner, die sich aber in die Mannschaftsdisziplin einfügen. Achraf Hakimi, Noussair Mazraoui sowie Abwehrchef Romain Saiss sind Klasseleute, dazu der Mittelfeldchef Sofyan Amrabat und Stürmer Youssef En-Nesryi, der Schütze des Goldenen Tores gegen Portugal. Um diesen Block herum hat der Coach eine Formation gebildet, in der vieles stimmt.

Marokko-Star Achraf Hakimi (l.) wird es im WM-Halbfinale gegen Frankreich mit Kilian Mbappe zu tun bekommen.
Marokko-Star Achraf Hakimi (l.) wird es im WM-Halbfinale gegen Frankreich mit Kilian Mbappe zu tun bekommen. © AFP

Und es wurde eine Taktik entworfen, die zu den Fähigkeiten der Spieler passt?

Der Kollege setzt auf Absicherung, setzt auf Defensive, operiert mit einem soliden und kompakten Block, hofft auf Konter-Attacken und die wenigen Momente, die sich vorn ergeben. Die Marschroute ist bisher bestens aufgegangen. Ich muss mir immer wieder vor Augen halten, welche Gegner die Nordafrikaner damit düpiert haben. Kroatien und meine Belgier, die Spanier und zuletzt die favorisierten Portugiesen. Keine Laufkundschaft, sondern die Elite aus Europa, was unterstreicht, dass Marokko verdient noch im Rennen ist.

Marokko musste in fünf Spielen nur ein Gegentor verkraften, und das war das Eigentor von Nayel Aguerd gegen Kanada. Gibt es ein größeres Kompliment für die Abwehrkünstler?

Ich sage mal so. Ich kenne diese Spielweise aus Schalke. „Die Null muss stehen“, hat bekanntermaßen Huub Stevens immer gesagt. Und er hatte damit durchschlagenden Erfolg. Regragui denkt genauso. Für mich ist er somit der „Huub vom Atlas“. Es ist nun mal so, dass ich nicht verlieren kann, wenn ich kein Tor kassiere. Und in der Offensive können zwei bis drei Konter unter Umständen reichen. Es ist vor allem ein Rezept, das im Turniermodus erfolgversprechend ist, in einer kompletten Saison in der Meisterschaft möglicherweise weniger.

Teilen Sie die Kritik an diesem eher unansehnlichen Stil, der nur auf Zerstören bedacht ist?

Es ist die alte Diskussion. Was nützt ein attraktiver Fußball, mit dem enorme Chancen kreiert werden, wenn kein Tor fällt. Einer, der so agiert, verliert oft und steht am Ende wie der Dumme da. Ich behaupte, die Spanier hätten noch Stunden spielen können und mit ihrem ungefährlichen Ballgeschiebe nicht getroffen.

Als „starke Mannschaft“ hat Frankreichs Weltmeistertrainer Didier Deschamps den kommenden Kontrahenten bezeichnet. Nur mit Glück, hat er gesagt, käme niemand ins Halbfinale. Ist noch mehr möglich für Marokko?

Warum nicht? Möglich scheint alles. Doch ich bleibe realistisch. Nun treffen die wackeren Marokkaner noch mal auf eine andere Qualität, obwohl die Franzosen zuletzt im hochklassigen Duell gegen England, dem bisher besten Spiel, auch Glück hatten. Sie verkörpern schon in vielen Bereichen Weltklasse und sollten ins Finale einziehen, wo ich die Argentinier erwarte. Diese Mannschaft will ihrem Anführer den Titel schenken. Die Argentinier tun alles für den Triumph Messis.

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Erstmals ein afrikanischer Teilnehmer im Halbfinale. Wie schätzen Sie den Auftrieb ein, den dieses Statement für den Fußball allgemein auf dem Kontinent bringen könnte?

Ich glaube, alle Nationen aus Afrika wollen dem nacheifern. Es stärkt das Selbstbewusstsein, denn in der Vergangenheit war Vieles auch Kopfsache, wenn die Afrikaner scheiterten.

Wie ist das Niveau der Liga in Marokko einzuschätzen?

Zunächst mal: Marokko lebt Fußball, Marokko liebt Fußball, das Land ist verrückt nach Fußball. Jeder hat die Begeisterungsstürme gesehen, die die Fans in Katar veranstaltet haben. Und der König macht mit, ist der größte Fan. Er investiert Millionen in Akademien und Trainingsstätten. Zur Frage: Casablanca, das Epizentrum des Fußballs, ist ganz anders als die meisten afrikanischen Plätze. Der Fußball ist europäisch geprägt. Die Spieler sind technisch gut, ein Level wie beim Strandfußball in Lateinamerika. Was fehlt, ist die körperliche Ausbildung, um die Talente auf einen anderen konditionellen Zustand zu heben. Da sind die in Europa ausgebildeten Marokkaner weit im Vorteil.