Al-Rajjan. Jürgen Klinsmann hat mit einer Technischen Studiengruppe der FIFA die WM 2022 analysiert. Versteckter Seitenhieb für Deutschland.
Jürgen Klinsmann schien das ausgeleuchtete Podium zu gefallen. Auffallend häufig hat der ehemalige Teamchef der deutschen Nationalmannschaft genickt, als die von ihm geleitete Technische Studiengruppe des Weltverbandes Fifa wichtige Trends der WM vorstellte. Eine Erkenntnis: Alles wächst zusammen, die Unterschiede werden geringer. Auch wenn es die Topspieler weiter nach Europa zieht, hängen Konföderationen wie Afrika oder Asien nicht mehr so weit hinterher wie früher. Nachdem 2018 noch ausnahmslos europäische Teams im Halbfinale standen, sind es jetzt mit den damaligen Finalisten Kroatien und Frankreich nur zwei.
Deutschland hat bei der WM den Fokus verloren
Deutschland ist zweimal in der Vorrunde gestrauchelt, Spanien hat sich zweimal im Achtelfinale verabschiedet. Ist daraus abzuleiten, dass die einstigen Trendsetter des Weltfußballs den Anschluss verlieren? Auf diese Frage reagierte einer der Architekten beim deutschen Sommermärchen 2006 ausweichend. „Ich habe immer gesagt, es wird ein Turnier, bei dem man mental und physisch gut vorbereitet sein muss und in der Lage, sich anzupassen“, so Klinsmann. Dem Leiter der Expertengruppe ist nicht entgangen, dass die DFB-Auswahl vielleicht auch wegen der Wirren außerhalb des Platzes vom Weg abkam. Ja, einige Länder hätten den Fokus verloren, sagte der 58-Jährige. „Andere Teams haben sich gut angepasst an die Jahreszeit, den Mittleren Osten und den Termin innerhalb der Saison. Man musste sich vielen Dingen anpassen.“ War da ein versteckter Seitenhieb herauszuhören?
Als Paradebeispiel für eine perfekte Adaption gilt Halbfinalist Marokko. Sunday Oliseh, früher Bundesligaspieler beim 1. FC Köln, Borussia Dortmund und VfL Bochum, sprach vom „großartigsten Turnier für Afrika, was wir erlebt haben. Nicht nur Marokko, sondern weil jedes Team aus Afrika mindestens ein Spiel gewonnen haben.“ Was die Organisation auf dem Spielfeld angehe, seien die Nordafrikaner gar eine der besten Mannschaften der WM: „Das ganze Team bringt Opfer gegen den Ball.“
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Der frühere Nationalspieler und Nationaltrainer Nigerias sah auch darin ein Statement, dass alle afrikanische Team auf Trainer aus Afrika setzen. Nur begrüßen kann der 48-Jährige, dass das afrikanische Kontingent für die WM 2026 von fünf auf neun Teilnehmer aufgestockt wird: „Eine Milliarde Menschen leben in Afrika, in meinem Land sind es mehr als 200 Millionen – ich denke nicht, dass die Qualität leiden wird.“ Oliseh machte aus seine Faible für Marokko für den Rest der WM keinen Hehl: „Meine Frau ist aus Marokko, meine Kinder sind aus Marokko. Mein Wunsch ist es, dass Marokko die WM gewinnt.“
Auch im asiatischen Fußball geht es angesichts dreier Achtelfinalisten voran. Der für diesen Kontinent zuständige Du-Ri Cha, Sohn der Legende Bum-Kun Cha, erinnerte daran, dass Saudi-Arabien, Japan, Südkorea und das zur Asiatischen Konföderation zählende Australien fünf Siege gegen Topnationen gelandet hätten. „Der asiatische Fußball hat sich gut entwickelt, sie haben die traditionellen Powermaschinen geschlagen“, sagte der in Frankfurt geborene 42-Jährige. „Durch die vielen asiatischen Spieler in Europa haben sie keine Angst mehr.“ Auch für einen weiteren Ex-Bundesligaspieler steht fest: „Die Kluft ist kleiner geworden.“
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Die Expertengruppe überflutete diesmal das Auditorium nicht mit Zahlen und Daten, die alles und nichts belegen können. Doch eine Präsentation sorgte dann doch für Erstaunen: Trotz der verschärften Regel werden deutlich mehr Elfmeter als früher von den Torhütern abgewehrt. Waren es in Russland nur 17 Prozent, sind es vier Jahre später in Katar stolze 36 Prozent. Die neue Regel, dass ein Fuß bei der Ausführung noch auf der Torlinie sein muss, versicherte der ehemalige Schweizer Nationalkeeper Pascal Zuberbühler sei „keine Maßnahme gegen den Torhüter – das ist eine für ihn. Dass muss man trainieren, man muss den richtigen Schritt machen, dann ist die Chance größer, den Ball abzuwehren.“
WM 2022: Torwartspiel entwickelt sich weiter
Überhaupt sei das Torwartspiel weiter im Umbruch begriffen. Bei der WM 2022 seien bislang mehr als 1000 Zuspiele an die Torhüter gegangen, 67 Prozent mehr als noch vor vier Jahren. Nur mit Bälle fangen ist es ja schon längst nicht mehr getan. Klinsmann nickte in diesem Moment. Vielleicht hat er sich nachträglich in seinem vieldiskutierten Wechsel von Oliver Kahn zu Jens Lehmann vor der WM 2006 bestätigt gefühlt.