Maskat. Nationaltorhüter Manuel Neuer geht als Nationalspieler in sein siebtes Turnier – als unumstrittene Führungsfigur
Grundsätzlich kennt Manuel Neuer das alles schon. Gut, diesmal säumen sehr viele, sehr bunte Blumen in sehr großen Kübeln den Eingang des Spielertunnels zum Stadion, dem Sultan Qaboos Sports Complex in der omanischen Hauptstadt Maskat. Drinnen erwarten den Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft sehr viele Männer in weiten weißen Gewänden. Sie machen Fotos und brüllen: „Neuer, Neuer, Neuer!“ Der hebt kurz den Arm und winkt, ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen, ist dann aber schnell wieder verflogen. Der Blick geht nach vorne, im wörtlichen Sinn: Neuer streift seine Torwarthandschuhe über, betritt den Platz, schnappt sich einen Ball und geht rüber zu Torwarttrainer Andreas Kronenberg.
So wie er es immer macht, denn letztlich ist dieses Abschlusstraining der deutschen Nationalmannschaft vor dem Testspiel im Oman an diesem Mittwoch (18 Uhr deutscher Zeit/RTL) nicht wirklich anders als jedes andere – und mit Abschlusstrainings kennt Manuel Neuer sich aus. 113 Länderspiele hat er bestritten, was für einen Torhüter außergewöhnlich viele sind. Die Weltmeisterschaft in Katar wird sein siebtes großes Turnier sein. Angefangen hat alles mit der WM 2010, dann dem Höhepunkt mit dem Titelgewinn 2014 in Brasilien und der krachenden Enttäuschung mit dem Vorrundenaus 2018 in Russland.
Andere Lage als 2018
Vor vier Jahren war der Torhüter Neuer nach langer Verletzungspause erst unmittelbar vor dem Turnier fit geworden und hatte doch im Tor gestanden, was rückblickend wohl eine von vielen nicht ganz glücklichen Entscheidungen der damaligen sportlichen Führung war. Auch jetzt kommt Neuer aus einer Verletzung, aber die Lage ist anders: Drei Bundesligaspiele hat er bestritten vor dem Abflug in den Oman, anders als 2018 ist er fit. Und obwohl das Tor nun wirklich keine Problemzone der deutschen Mannschaft ist, zeigt sich Bundestrainer Hansi Flick doch heilfroh, dass seine Nummer 1 rechtzeitig fitgeworden ist. „Er hat das Torwartspiel auf ein neues Niveau gehoben, deswegen ist er in meinen Augen noch immer der beste Torhüter der Welt“, sagt Flick. „Deshalb sind wir happy, dass er zurück ist und auch hier zeigt, welche Qualität er hat.“
Denn Neuer steht eben noch einmal über allen Mitstreitern. Auch über Marc-André ter Stegen, der Barça-Torhüter ist wegen eines Magen-Darm-Infekts noch nicht im Oman. So zumindest schätzt es der Bundestrainer ein, und das gilt ausdrücklich nicht nur für Neuers Wirken auf, sondern auch neben dem Platz. „Ich kenne ihn schon sehr lange, er ist ein wichtiger Ansprechpartner für mich“, sagt Flick. „Er hat eine gewaltige Erfahrung.“
Neuer „Ich habe große Ziele. Ich möchte Weltmeister werden.“
Neuer hat früh den richtigen Ton gesetzt, schon im August 2021, als er im ersten Lehrgang unter Flick in einem schmucklosen Stuttgarter Tagungszentrum saß und verkündete: „Ich habe große Ziele. Ich möchte Weltmeister werden.“ Nach und nach folgten dann die Mitspieler dieser Zielsetzung, zuletzt am Dienstagmittag im Oman der Freiburger Linksverteidiger Christian Günter: „Wenn man als Deutschland zu einer WM fährt, will man das Bestmögliche erreichen – und das ist der Titel.“
Flick äußert sich zu den Aussichten zwar zurückhaltender, er weiß, dass seine Mannschaft aktuell eher nicht die besten Einzelspieler versammelt hat. Aber es gefällt ihm, dass seine Akteure ehrgeizig und selbstbewusst auftreten – und dass Neuer dabei vorangeht. Bis dahin war der Kapitän zumindest nach außen nie als Mann der klaren Worte aufgefallen. Wer ihn nach dem Konkurrenzkampf im Tor, seiner Zukunft oder den Zielen fragte, bekam meist Allgemeinplätzchen serviert.
Auftritt mit Regenbogen-Kapitänsbinde
Der Torwart Neuer wollte vor allem nicht anecken, so schien es oft genug. Bei der Europameisterschaft im vergangenen Jahr trug er zwar die Regenbogen-Kapitänsbinde als Zeichen für Vielfalt und gegen Hass – bei den Spielen in München und auch London, als die deutsche und die englische Mannschaft zusätzlich als Zeichen gegen Rassismus knieten. Aber als Kapitän machte er sich andererseits nicht dafür stark, dass man beispielsweise auch in Ungarn eine solche Botschaft gesetzt hat – was dort überhaupt nicht gut angekommen wäre.
Zur umstrittenen Weltmeisterschaft in Katar hielt er sich öffentlich lange zurück mit deutlichen Worten oder gar Kritik. Den Regenbogen wird er dort nicht am Arm tragen, dafür eine One-Love-Kapitänsbinde, die so ähnlich aussieht, aber eben nicht das Gleiche ist. Dann aber kam der WM-Botschafter Khalid Salman mit seinen homophoben Äußerungen – und zwang den ganzen DFB, zwang auch den Kapitän Neuer, Farbe zu bekennen. „Wir kommen immer näher zum Turnier, und dann äußert sich plötzlich einer der WM-Botschafter Katars auf diese absolut inakzeptable Weise“, sagte er dem Münchner Merkur kopfschüttelnd, und kündigte an: „Wir werden in Katar Flagge zeigen! Wir werden unsere Werte dort vertreten.“
Heim-EM 2024 ist eingeplant
Wie er das allerdings machen will, bleibt vorerst offen: „Welche Konsequenzen zieht es nach sich, wenn wir uns dort sehr offensiv positionieren?“, fragte er. „Das weiß man ja auch nicht. Keiner kann in die Zukunft schauen.“ Er gehe zwar davon aus, dass man sich positionieren werde. „Aber auf welche Art und Weise es jetzt der Fall sein wird, das wissen wir alle noch nicht.“
Weiterhin wirkt Manuel Neuer eben lieber nach innen als nach außen. Da kann der DFB-Kapitän nach all den Jahren nicht aus seiner Haut – auch nicht vor diesem, seinem mutmaßlich letzten WM-Turnier. Im März ist er 36 Jahre alt geworden, eine weitere Weltmeisterschaft kommt wohl nicht mehr dazu. „Man weiß nie, aber ich gehe davon aus“, sagte er kürzlich. Aber ans Karriere-Ende denkt er noch nicht, 2024 gibt es ja noch die EM im eigenen Land. „Europameister waren wir alle noch nicht“, sagt Neuer – und setzt schon wieder den Ton.