Eugene. Der Weltmeister hat seit seinem Triumph 2019 Verletzungssorgen. Gegen die starke Konkurrenz muss er in Eugene am zweiten Tag aufdrehen.

Bevor es für ihn in Eugene überhaupt anfängt, ist für Niklas Kaul alles wieder wie vor drei Jahren in Doha. Damals betrat er die WM-Bühne als fast Unbekannter, nun betritt er sie zwar als amtierender Weltmeister, aber erneut als einer, den wieder keiner so wirklich auf dem Zettel hat. Wie vor drei Jahren. Am späten Mittwochabend kam der 24-Jährige in der kleinen Universitätsstadt im Nordwesten der USA an, wo am Samstag (18.50 Uhr) der Zehnkampf mit dem 100-Meter-Lauf beginnen wird.

Es ist schwer, über Niklas Kaul zu sprechen, ohne Doha dabei zu erwähnen. 2019, bei der WM in Katar, fand Deutschland einen neuen Sporthelden. Einen, der am ersten Wettkampftag noch unter dem Radar lief, um am zweiten regelrecht zu explodieren. Wie ein Schnellzug auf dem Überholgleis rollte er das Feld von hinten auf. Mit dem Speer, mit dem Hochsprung-Stab, auf der Laufbahn über 1500 Meter. Als Elfter war der Mainzer in den zweiten Tag gestartet, als König der Leichtathleten hatte er ihn beendet. Niklas Kaul, der bisher jüngste Zehnkampf-Weltmeister überhaupt, war der neue Stern der deutschen Leichtathletik. Ein Versprechen für die Zukunft.

Niklas Kaul erlebte bei Olympia in Tokio einen Rückschlag

Es ist aber auch schwer über Niklas Kaul ohne Doha zu sprechen, weil es danach nicht mehr viel zu erwähnen gab. Zumindest nicht viel Gutes, denn Kauls Geschichte seit Doha ist eine voller Rückschläge. Erst gab eine Ellenbogen-Operation, dann endete sein Olympia-Auftritt in Tokio im vergangenen Sommer vorzeitig mit einer Quetschung im rechten Sprunggelenk. Erfolg und Drama in einem einzigen Sprung: Seiner Bestleistung im Hochsprung folgte das Olympia-Aus.

Auch interessant

Nun also Eugene. Ein neuer Anlauf in einem großen internationalen Wettbewerb. Doch die WM, das hatte Kaul zuvor mehrfach betont, sei ihm gar nicht so wichtig. „Eugene ist mir sowas von egal, wenn ich dafür in München im Olympiastadion stehen kann“, sagte der Lehramtsstudent der Fächer Sport und Physik mit Blick auf die EM im kommenden Monat in Deutschland. „Die WM mag sportlich einen höheren Stellenwert haben, aber eine EM zu Hause ist etwas Besonderes. Dazu in diesem wunderschönen, legendären Stadion.“

Positive Tendenz ist bei Niklas Kaul erkennbar

Es mag auch ein bisschen Trotz in diesen Worten stecken, ein wenig Unsicherheit vor dem Start. Es klingt auch fast ein bisschen wie eine Absicherung für den Fall des Scheiterns. Schließlich weiß Kaul, dass auch das Stadion in Eugene ein legendäres ist, dass dort das Herz der US-Leichtathletik schlägt. Was Niklas Kaul nicht weiß, ist wie es für ihn im Hayward Field laufen wird. Wird sein Körper halten?

Die bisherigen Testläufe ließen zumindest eine positive Tendenz erkennen. Den Saisonauftakt beim Traditions-Wettkampf in Ratingen brach er wegen einer Halswirbel-Blockade vor dem Start des 400-Meter-Rennens ab. Wenig später im österreichischen Götzis, beim stärksten Zehnkampf-Meeting der Welt, holte er sich als Vierter sein Selbstvertrauen zurück und erfüllte die so sehr herbeigesehnte Qualifikationsnorm für die EM. Erneut machte ihm aber der Fuß zu schaffen, angeschlagen biss er bis zum Abschluss auf die Zähne.

Der Zehnkampf-Favorit heißt Damian Warner

Und nun? Sein Freilos als Titelverteidiger nutzt Niklas Kaul für die WM, weil „ich mich gut fühle. Die körperliche Verfassung ist top.“ Großen Druck fühle er nicht, denn Kaul weiß, dass sein Sieg bei der WM in Doha einer Sensation glich und die Titelverteidigung in Eugene einem Wunder gleichkäme. „Wenn es gut geht, ist das schön, wenn nicht, ist das auch kein Drama“, sagt Vater und Trainer Michael Kaul. Auf dem Zettel hat seinen Sohn ja ohnehin kaum einer nach der jüngsten Verletzungsmisere. Eine Situation also, die Niklas Kaul gewohnt ist. Und bei der ihm seine Mischung aus mentaler Stärke und souveräner Haltung häufig hilft, den Kampf immer wieder von vorne aufzunehmen.

Auch interessant

Bei Niklas Kaul kann man eben nie wissen, was kommt. „Mit diesem Typ muss man immer rechnen. Er hat hintenraus so viele gute Disziplinen“, sagt auch Tokio-Olympiasieger Damian Warner aus Kanada. „Man muss Niklas immer im Auge behalten.“

Vier deutsche Athleten sind am Start

Ja, Kaul ist der Mann des zweiten Tags. Wenn Sprinttypen wie Warner von den Vortagspunkten zehren, beginnt Kaul den Wettbewerb mit seinen starken Disziplinen erst zu genießen. Doch die Konkurrenz bei dieser WM ist erdrückend. Da ist eben Damian Warner, der erst vierte Mann in der Geschichte des Sports, der mehr als 9.000 Punkte bei einem Zehnkampf holte. Das ist Kevin Mayer, Weltrekordhalter aus Frankreich, der eigentlich nur in Topform auf der Bildfläche auftaucht, wenn es Medaillen zu holen gibt. Mit Garrett Scantling, US-Amerikaner mit Heimvorteil und derzeitig Nummer eins der Welt, muss man auch rechnen. Historisch auch: Neben Kaul gehen Routinier Kai Kazmirek sowie Tim Nowak und Leo Neugebauer an den Start. Vier Deutsche im WM-Zehnkampf – das gab es nie zuvor.

Kaul weiß, dass er selbst als amtierender Weltmeister wieder Außenseiter ist. Doch wie hatte er schon 2019 nach dem Triumph in Doha gesagt: „Ich bin nicht der beste Zehnkämpfer, aber vielleicht der konstanteste.“ Der Mann des zweiten Tags. Ein Mann für eine weitere große Überraschung?