Essen. Der Olympiavierte Henning Mühlleitner zählt bei der WM in Budapest zu den Favoriten. Er ist ein unkonventioneller Leistungssportler.
Henning Mühlleitner ist ein Schwimmer, der über den Beckenrand hinausschaut. Während sich viele seiner Nationalmannschaftskollegen im Höhentrainingslager auf die am Samstag in Ungarns Hauptstadt Budapest beginnende Weltmeisterschaft vorbereiteten, präsentierte der 24-Jährige an der Universität Heilbronn seine Bachelor-Arbeit über die Klassifizierung von Chatbots. Bevor der angehende Wirtschaftsinformatiker aber in den Master-Studiengang einsteigt, will er bei der WM über 400 Meter Freistil und mit der langen deutschen Freistil-Staffel zeigen, dass er auch im Schwimmen meisterlich ist.
Henning Mühlleitner war der Schwimm-Aufsteiger des Jahres 2021. Als Außenseiter war er zu den Olympischen Spielen in Tokio angereist, doch dann entwickelte sich der Nobody als Vorlaufschnellster über 400 Meter Freistil plötzlich zum heißen Medaillentipp. Auch wenn er nur um 14 Hundertstelsekunden den Sprung aufs Podium verpasste, war der Schwimmer der Sport-Union Neckarsulm der wohl glücklichste Vierte in Tokio.
Nur Uwe Dassler war bei Olympia schneller
„Ich habe meine Ziele erreicht. Ich wollte ins Finale und bin ein sehr gutes Rennen in toller Bestzeit geschwommen“, sagt er. Der letzte deutsche Schwimmer, der bei Olympia über diese Strecke besser platziert war als Mühlleitner, war Uwe Dassler aus der damaligen DDR als Olympiasieger bei den Sommerspielen 1988 in Seoul.
Abgesehen von der Prämie in Höhe von 5000 Euro hat sich der vierte Platz finanziell nicht ausgezahlt. „Ich schwimme nicht, um möglichst viel Geld zu verdienen. Das treibt mich nicht an“, erzählt er ohne Wehmut in der Stimme. „Ich bin stolz, Vierter bei Olympia gewesen zu sein. Doch ich will mich nicht nur über den Sport definieren, mich nicht mit 24 Jahren zurücklehnen und mich jeden Tag finanziell oder sozial selbst auf einen möglichen Olympiasieg reduzieren lassen. Irgendwann ist das Hoch vorbei. Irgendwann kommt das Jahr 2045, und dann juckt es keinen mehr, wer jetzt Olympiasieger gewesen ist.“
Henning Mühlleitner ist ein unkonventioneller Leistungssportler. Auch sein erster Kontakt mit dem Wasser war alles andere als alltäglich. Da seine Eltern als Entwicklungshelfer in Ghana arbeiteten, lernte er das Schwimmen in Afrika. Zwar hat er zu seinem Bedauern die Sprache der Einheimischen, Twi, verlernt, aber es war eine unbeschwerte Zeit, wie er sich erinnert: „Ich bin mit harmlosen Wasser-Skorpionen im Pool getaucht und mit Schlangen und anderen Tieren aufgewachsen. Das war schon cool. Morgens habe ich das Moskitonetz zur Seite geschoben, bin aus dem Bett gekrochen und habe mich aus dem Haus geschlichen.“ Nachdem er mit den Nachbarskindern gespielt hatte, ist er völlig verdreckt und von der roten Erde verstaubt wieder nach Hause gekommen.
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Aber nicht alles war so cool in Ghana. In der Schule ist er auch mal geschlagen worden. „Wenn man sein Alphabet oder Vokabeln nicht richtig aufsagen konnte, musste man seine Finger strecken, und die Lehrerin kam mit dem Stock. Aber so schlimm war es nicht“, erinnert sich Henning Mühlleitner. Als er wieder nach Deutschland kam, hatte er einige Anpassungsschwierigkeiten, weil er lieber Englisch als Deutsch sprach. Für einige Zeit wurde er sogar aus der Schule genommen, weil er als verhaltensauffällig eingestuft worden war. In der Mittelstufe kämpfte er dann noch einmal mit Schulproblemen. „Ich hatte so meine Schwierigkeiten, war der Klassenclown und ein Chaot. Mein Wechsel auf das Sportinternat in Saarbrücken hat alles verändert. Ohne das Schwimmen hätte ich kein Abitur gemacht“, gibt er zu. „Es kam Struktur in meinen Tagesablauf. Das hat mich zurück zum Wesentlichen geführt.“
400 Meter Freistil zum Auftakt
Längst ist Henning Mühlleitner nicht nur einer der besten Freistilschwimmer der Welt. Nicht viele Sportler der Weltklasse schaffen es so wie der Neckarsulmer, Schwimmen und Studium unter einen Hut zu bringen. Henning Mühlleitner schwimmt nicht nur Spitzenzeiten und geht mit Bravour an der Uni seinen Weg, er sammelt auch als Werkstudent praktische Erfahrung in einem IT-Unternehmen. „Manchmal ist es schon anstrengend, drei Feuer gleichzeitig zu löschen“, sagt er, fügt dann aber mit Bestimmtheit hinzu: „Ich schätze auch diese Abwechslung zwischen Sport und Studium beziehungsweise Beruf. Ich will nicht den ganzen Tag nur über Schwimmen reden. Die Belastungen, die ich im Studium oder in meinem Job als Werkstudent meistere, helfen mir auch im Sport.“
Und auf diese spezielle Art der Vorbereitung setzt Henning Mühlleitner auch bei der Weltmeisterschaft in Budapest, bei der er gleich am ersten Wettkampftag am Samstag über 400 Meter Freistil ins Wasser springt. Dann geht es nicht darum, Chatbots zu klassifizieren, sondern sich selbst möglichst weit vorn zu platzieren.