Leverkusen. Rudi Völler hört am Samstag als Sportchef bei Bayer Leverkusen auf. Ein Gespräch über Popularität, Leistungsdruck und Veränderungen.

Zum Abschied haben ihm die Leverkusener Spieler bereits vor einer Woche eine große Freude bereitet: Dass Bayer den Einzug in die Champions League geschafft hat, bedeutet für Rudi Völler eine Erleichterung mit Blick auf das Heimspiel gegen den SC Freiburg an diesem Samstag (15.30 Uhr/Sky). So muss er nicht mehr zittern, diesen Tag kann er nun genießen. Es ist sein letzter als Sport-Geschäftsführer, der Weltmeister von 1990 und frühere Teamchef der Nationalmannschaft zieht sich mit 62 Jahren in den Ruhestand zurück.

Wer die populärsten deutschen Fußballer aufzählt, kommt an Uwe Seeler nicht vorbei. Und landet dann auch schon zügig bei Rudi Völler. Wie haben Sie das hinbekommen?

Rudi Völler: Ich weiß es nicht. Es ist schwierig, über sich selbst zu urteilen. Ich habe ja auch meine Fehler. Manchmal bin ich einen Tick zu impulsiv. Aber ich versuche, authentisch zu bleiben. Ich bin möglichst immer freundlich zu allen. Wenn mir aber etwas nicht passt, dann sage ich das auch.

Ihrer Beliebtheit hat es jedenfalls nie geschadet, dass Sie sich nicht zurückgehalten haben, wenn Sie mal sauer waren. Das heißt vermutlich, dass die Leute es mögen, wenn man im Fußballgeschäft Ecken und Kanten zeigt.

Ja, das glaube ich auch. Es darf nur nicht aufgesetzt wirken. Ich nehme es mir raus, auch mal über das Ziel hinaus zu schießen, auch mal deutlich zu werden. Wichtig ist, eine klare Meinung zu vertreten – das können dann auch mal unangenehme Wahrheiten sein.

Nachdem Sie zuvor als Spieler in der Welt unterwegs waren, sind Sie als Sportchef in Leverkusen sesshaft geworden. Wie kam es dazu?

Als Spieler wollte ich hier noch ein Jahr oder zwei Jahre kicken, dann meine Karriere beenden – und mal schauen, was kommt. Dann machte mir Reiner Calmund das Angebot, als Sportdirektor seine rechte Hand zu sein. Damals habe ich viel gelernt, und so wuchs ich im Laufe der Jahre in diese Rolle hinein. Zwischendurch war ich ja auch noch mal eben vier Jahre Teamchef der Nationalmannschaft. Dadurch, dass ich da viel Verantwortung zu tragen hatte, bin ich gereift. Das war wichtig, als ich zurückkam und Calli nicht mehr da war. Über so viele Jahre hierzubleiben, hätte ich mir damals nicht vorstellen können, aber es war eine tolle Entscheidung.

Ihre Spielerkarriere lief auch wie gemalt. Sie hatten tolle Jahre in Bremen, waren bei AS Rom längst ein Weltklassespieler, sind Weltmeister geworden, und danach haben Sie mit Olympique Marseille sogar noch die Champions League gewonnen.

Ja, das war natürlich schön. Vor allem, wenn du nicht bei Bayern München spielst, wo du fast jedes Jahr Deutscher Meister wirst. Ich habe jetzt gelesen, der Kingsley Coman vom FC Bayern ist, seitdem er Profi ist, immer Meister geworden – ob bei Paris Saint-Germain, bei Juventus Turin oder jetzt bei Bayern München. Das ist einfach unglaublich.

Mit der deutschen Nationalmannschaft gewann Rudi Völler (rechts) 1990 die Weltmeisterschaft in Italien - und jubelte gemeinsam mit Lothar Matthäus.
Mit der deutschen Nationalmannschaft gewann Rudi Völler (rechts) 1990 die Weltmeisterschaft in Italien - und jubelte gemeinsam mit Lothar Matthäus. © dpa

Die Frage ist, ob man sich darüber dann noch jedes Mal richtig freuen kann.

Klar. Jeder Titel ist zwar was Besonderes. Aber manchmal sind es auch andere Ereignisse, die für enorme Begeisterung sorgen. Wenn ich daran denke, was am Wochenende in Schalke los war nach dem Aufstieg. Auch in unserer Kabine war in Hoffenheim dieses wunderbare Gefühl zu spüren, dass wir aus eigener Kraft Dritter geworden sind. Oder schauen wir mal auf die Freiburger, die eine ganz besondere Saison spielen. Du musst nicht immer eine Schale in der Hand halten, um Ziele zu erreichen, die man auch mal richtig feiern kann. Natürlich ist den Bayern die Meisterschaft wichtig, aber wahrscheinlich wäre ihnen der Gewinn der Champions League lieber gewesen als die letzten fünf Meistertitel.

Es gab einen krassen Wendepunkt in Ihrem Fußball-Leben: Über Nacht wurden Sie im Jahr 2000 Teamchef der Nationalmannschaft. Wie denken Sie mehr als zwei Jahrzehnte danach darüber?

Ich bin ja nicht der Einzige, der das ein wenig überraschend wurde. Bei Franz Beckenbauer und Jürgen Klinsmann war es ähnlich. Ich war ja nur als Zwischenlösung für ein Jahr gedacht, Christoph Daum sollte ja 2001 Bundestrainer werden. Ich wollte eigentlich nie Trainer werden.

Aber dann gleich als Neuling die Nationalmannschaft zu übernehmen – das erforderte Mut.

Ja, als ich es wurde, habe ich in der ersten Nacht nicht gut geschlafen. Zum Glück haben wir dann das erste Länderspiel in Hannover mit 4:1 gegen Spanien gewonnen. Besonders heftig aber war, dass ich zeitgleich ja auch noch zwei Monate Interimstrainer bei Bayer Leverkusen war, als Christoph Daum gehen musste. Danach habe ich aber gesagt: Eines geht nur – und habe mich dann für die Nationalmannschaft entschieden.

Rudi Völler: "Das war der größte Druck, den ich im Sport in meinem Leben jemals gespürt habe"

2001 gab es dann gegen die Ukraine die beiden Play-off-Spiele zur WM 2002. Eine schwer erträgliche Situation.

Diese beiden Spiele – das war der größte Druck, den ich im Sport in meinem Leben jemals gespürt habe. Beim 1:1 im Hinspiel haben uns die Ukrainer in den ersten 20 Minuten an die Wand gespielt, die hatten eine richtig starke Mannschaft. Damals haben viele versucht, mir einzureden, dass es kein Drama wäre, wenn wir das nicht schaffen würden. Aber das konnte ich richtig einschätzen. Das hätte mir keiner verziehen. Ich wäre der erste Trainer gewesen, der mit Deutschland die WM verpasst hätte. Zum Glück stand es im Rückspiel in Dortmund schon früh 3:0 und am Schluss 4:1.

In Dortmund hatten Sie noch einmal etwas zu verlieren. Ihr TV-Auftritt 2003 nach dem 0:0 auf Island, als Sie die ARD-Crew mitsamt Günter Netzer beschimpft hatten, ist legendär – aber hätte die Mannschaft nicht direkt danach mit 2:1 gegen Schottland gewonnen, hätten Sie nicht gut dagestanden.

Das stimmt, das war auch eine besondere Situation nach diesem Interview. Trotzdem war das nicht zu vergleichen mit den Spielen gegen die Ukraine.

Weil man die Verantwortung für das ganze Land spürt?

Genau. Wenn Gesundheitsminister Lauterbach in Talkshows geht oder wenn sich Wirtschaftsleute oder Wissenschaftler erklären, blicken viele gar nicht durch. Beim Fußball redet jeder mit.

Und der ist auch noch unberechenbar.

Ja, das beste Beispiel sind Manchester City und Paris Saint-Germain, die seit Jahren vergeblich versuchen, die Champions League zu gewinnen. Mit viel Geld kannst du national Meister werden, aber auch bei den Bayern vergehen Jahre zwischen zwei Champions-League-Triumphen.

Wie sehen Sie denn die Entwicklung im deutschen Fußball? Oben thronen mit Abstand die Bayern, dahinter hat sich Borussia Dortmund festgesetzt. Und RB Leipzig ist dazugekommen.

Auch früher konnten oft nur zwei, drei Vereine Meister werden. Und von den zehn letzten Titeln der Bayern waren auch drei gar nicht so selbstverständlich. Aber Sie haben schon recht: Gut ist das natürlich nicht. Nur: Wie soll man das ändern?

Das wäre unsere nächste Frage gewesen.

Mit Play-offs wäre das Problem jedenfalls ganz sicher nicht zu lösen. Diese Überlegungen, die ja schon aufkamen, sind für mich völliger Blödsinn. Damit würde eine künstliche Spannung an den letzten zehn Tagen erzeugt, die aber ein halbes Jahr vorher fehlen würde. Dann würden Bayern und Dortmund im Winter zwischen ihren Champions-League-Spielen mit B-Mannschaften antreten. Im Grunde kannst du es nur wirtschaftlich lösen, wenn du die Abstände verkürzen willst.

Besteht also die Gefahr, dass die 50+1-Regel irgendwann doch geopfert wird, um den Weg für neue Großinvestoren freizumachen?

Wir als Bayer Leverkusen können mit der jetzigen Regel gut leben. Wenn sie aber irgendwann fallen sollte, würden wir auch damit klarkommen.

Die Funke-Sport-Redakteure Marian Laske (links) und Peter Müller (rechts) trafen Rudi Völler in der Leverkusener BayArena zum Interview.
Die Funke-Sport-Redakteure Marian Laske (links) und Peter Müller (rechts) trafen Rudi Völler in der Leverkusener BayArena zum Interview. © Lars Heidrich

Ein Konzern wie Bayer könnte aber auch Ernst machen und viele Millionen mehr in den Verein pumpen.

Das Schöne ist: Genau das machen wir nicht. Hier geschieht alles mit Augenmaß. Wir betrachten uns selbst zwar mit großer Identifikation als Werksklub, aber wir werden dafür nicht mehr so kritisch gesehen wie in den 80er- oder 90er-Jahren, eben weil wir nichts Verrücktes machen. Trotz ordentlicher Unterstützung müssen wir immer unsere Ziele erreichen. Wären wir jetzt nicht in die Champions League gekommen, hätten wir wahrscheinlich einen unserer guten Spieler verkaufen müssen, so wie wir es mit Kai Havertz gemacht haben.

Blicken wir einmal nach vorne. Am Jahresende steht die WM in Katar an. Was trauen Sie da der deutschen Mannschaft zu?

Viel. Ich zähle sie zum Kreis der ersten Fünf. Der Top-Favorit ist für mich Frankreich.

Rudi Völler zu seinem Abschied: "Es kommt keine Wehmut auf"

Sie können dann entspannt zuschauen. Sind Sie glücklich mit Ihrer Entscheidung, jetzt aufzuhören?

Ja, natürlich. Es kommt auch keine Wehmut auf. Ich habe ja schon seit drei, vier Jahren darauf hingearbeitet. Irgendwann ist es auch mal gut, es reicht jetzt. Ich glaube nicht, dass ich in ein Loch fallen werde. Ich werde jetzt alles mehr aus dem Hintergrund beobachten, ich bin ja noch im Gesellschafterausschuss und werde auch bei den Champions-League-Reisen dabei sein. Aber ich reise nicht mehr zu jedem Auswärtsspiel mit. Ich werde sicher öfter mal in Rom sein, das ist ja meine zweite Heimat geworden. Allein durch das Handy bist du sieben Tage die Woche im Job. Das wird anders werden.

Erst Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge, jetzt Michael Zorc und Sie – glauben Sie, dass der Bundesliga zu viele Typen verloren gehen?

Ach, es geht immer weiter. Auch hier in Leverkusen, wir sind gut aufgestellt. Leute wie Stefan Kießling und Simon Rolfes sind hier richtig gut in ihre Rollen hineingewachsen, das gefällt mir.

Aber der Fußball ist auch Entertainment. Die neue Generation kommt ein bisschen glatter, ein bisschen überlegter rüber.

Es ist anders. Die Jüngeren reden geschliffener, jedes Wort ist überlegt. Das hängt natürlich mit der neuen Medienwelt zusammen, die Smartphones haben unser Leben verändert. Wir sind früher auch mal rausgegangen nach den Spielen, aber uns hat doch keiner dabei gefilmt. Deshalb sind alle vorsichtiger geworden. Ich bin auch deshalb nicht neidisch auf die neue Generation. Neidisch bin ich nur darauf, dass heute auch am letzten Spieltag der Saison auf wunderbar gepflegten Rasenflächen gespielt werden kann, und dass Stürmer heute von Schiedsrichtern besser geschützt werden. Was ich früher von Verteidigern getreten wurde …

Also hat sich auch manches verbessert im Laufe der Jahre.

Grundsätzlich finde ich, dass vor allem hier in Deutschland der Fußball schlechter gemacht wird, als er ist. In der ersten Zeit der Pandemie wurden viele Kommentare geschrieben, dass die Zuschauer nicht mehr zurückkommen würden, dass sie sich entwöhnt hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Egal, wohin ich schaue: Die Stadien sind voll. Die Frankfurter fahren mit 30.000 Leuten nach Barcelona. Der Fußball hat hier immer noch eine enorme Bedeutung. Wenn ich höre, dass American Football als neue Konkurrenz aufkommt – damit kann ich nichts anfangen. Ich bin für den Super Bowl mal nachts mit meinen Jungs aufgestanden. Das Beste daran war die Halbzeitshow mit Jennifer Lopez, der Rest war grausam für mich, da sind mir die Füße eingeschlafen. Ja, die jüngere Generation schaut sich das mal an, auch wenn die NFL demnächst mal in München spielt. Aber doch nicht Woche für Woche. Wir müssen unsere Bundesliga auch schützen. Am vergangenen Wochenende waren in so vielen Stadien die Innenräume mit Fans besetzt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass das Demonstrationen gegen den Fußball waren, oder? (lacht)