Essen. Vor einem Jahr sorgte Sarah Voss bei der Turn-EM im langen Anzug für ein Novum. Im Interview erzählt sie, was sich seitdem verändert hat.
Vor genau einem Jahr sorgte die Kölnerin Sarah Voss bei den Europameisterschaften in Basel für Furore. Sie war als erste Turnerin auf internationaler Bühne in einem Anzug angetreten, der Beine und Arme vollständig verdeckt. Im Teamwettbewerb schlossen sich dann auch ihre Kolleginnen Elisabeth Seitz, Pauline Schäfer-Betz und Kim Bui an.
Im Interview spricht die 22-Jährige über das Umdenken der Branche, das sie mit ihrem ersten Auftritt in diesem Outfit angestoßen hat, die weltweite Aufmerksamkeit durch die langen Anzüge bei den Olympischen Spielen in Tokio und darüber, welches sportliche Ereignis in diesem Jahr das Highlight für sie ist.
Frau Voss, bei den Europameisterschaften in Basel im vergangenen sind Sie erstmals in einem langen Turnanzug angetreten. Was hat sich seitdem verändert?
Sarah Voss: Ich habe das Gefühl, vieles hat sich verändert. Mit das Wichtigste ist, dass Turnerinnen jetzt offener darüber sprechen können, wenn ihnen etwas nicht behagt. Das Thema Selbstbestimmung ist deutlich in den Vordergrund gerückt. Dinge, die vorher vielleicht unausgesprochen ein Thema waren, werden jetzt öfter angesprochen. Auch in anderen Sportarten hat sich etwas getan. Wie bei den Beachhandballerinnen, die nicht mehr in Bikini-Shorts antreten wollten. Und durch unseren Auftritt bei der EM haben viele Turnerinnen auch erst mitbekommen, dass es diese Art von Anzügen gibt, dass es erlaubt ist, sie zu tragen und, dass man sich dabei gut fühlen und gut aussehen kann.
Trauen sich jetzt auch mehr junge Sportlerinnen, einen langen Anzug im Wettkampf zu tragen? Also hatte Ihr Auftritt vor einem Jahr auch für die Nachwuchsturnerinnen eine bleibende Wirkung?
Voss: Ja, auf jeden Fall. Ich bin gerade im Trainingslager in Frankfurt und hier sprechen wir natürlich auch mit den jungen Mädels. Einige von ihnen tragen lange Anzüge. Außerdem gibt es immer mehr Hersteller, die diese Form der Anzüge für den Leistungs- und den Breitensport herstellen. Vor einem Jahr war das eine absolute Seltenheit. Unsere Anzüge bei der EM und den Olympischen Spielen wurden von unserer Schneiderin beispielsweise handgenäht. Jeder Anzug ist ein Unikat. Sie hat uns berichtet, dass auch bei ihr immer mehr Anfrage nach langen Anzügen eingehen.
Sie scheinen eine große Veränderung in ihrem Sport auf den Weg gebracht zu haben.
Voss: Ich glaube, dass ein Anstoß für Veränderung geschafft ist. Ich gehe aber davon aus, dass es zwar noch ein bisschen Zeit braucht, aber dass man dann bald öfter Athletinnen in langen Anzügen sehen wird.
Wann ist die Entscheidung gefallen, auch bei den Olympischen Spielen in den langen Anzügen an den Start zu gehen?
Voss: Eigentlich war das schon bei der EM klar. Wir haben anschließend noch einmal Verbesserungen an den Anzügen vorgenommen.
Obwohl es bei den Olympischen Spielen ja sportlich nicht so gut lief, sowohl im Einzel als auch mit der Mannschaft hat es ja nicht für den Einzug ins Finale gereicht, gingen die Bilder von Ihnen und den langen Anzügen um die Welt. Sogar die New York Times hat darüber berichtet. Wie haben Sie das erlebt?
Voss: Das Interesse an unserem Outfit war sehr groß. Besonders auch in den USA, wo ja das Thema sexualisierte Gewalt im Turnen in der Vergangenheit eine große Rolle gespielt hat. Für uns ging es in erster Linie darum, die Message zu transportieren, dass sich Mädchen und junge Frauen bei der Ausübung unseres tollen Sports wohlfühlen sollen. In einem Outfit, in dem sie sich ganz auf ihre sportliche Leistung konzentrieren können – und nicht befürchten müssen, man könne zu viel sehen.
Das ist Sarah Voss
Sarah Voss stammt aus Frankfurt/Main, ist Athletin beim Turnteam der Deutschen Sporthochschule Köln und studiert Wirtschaftswissenschaften.Das Lieblingsgerät der 22-Jährigen ist der Schwebebalken. Mit dem Weltcup-Sieg in Baku Anfang April schaffte sie ihren bisher größten sportlichen Erfolg. Sarah Voss ist mehrfache Deutsche Meisterin, unter anderem 2019 im Mehrkampf.
Schon nach der EM gab es viele Anfragen, es wurde viel darüber diskutiert. Natürlich auch in den Sozialen Medien. Dort gab es auch einige negative Kommentare wegen des Anzugs. Aber das positive Feedback hat doch deutlich überwogen.
Welche Rückmeldungen haben Sie von den anderen internationalen Turnerinnen bekommen?
Voss: Durchweg positive. Viele Komplimente für den schönen Anzug waren dabei. Einige haben auch gesagt: „Also für mich wäre es nichts, aber cool, dass du ihn trägst.“
Sie tragen seitdem immer wieder einen Anzug mit langen Beinen, wie zuletzt bei Ihrem bisher größten Erfolg ihrer Karriere in Baku (Aserbaidschan). Dort siegten Sie im Weltcup am Schwebebalken.
Voss: Ja, ich entscheide mich immer spontan, in welchem Outfit ich mich am wohlsten fühle und der lange Anzug gehört jetzt regelmäßig dazu. In Baku ist für mich dann auch endlich ein Knoten geplatzt. Ich habe mir selbst großen Druck gemacht und wollte endlich meine Erwartungen und die der anderen erfüllen. Es macht mich unglaublich glücklich, dass ich meine Leistung auch in so einer Situation abrufen konnte.
Es ist Ihre erste Medaille im Weltcup und dann gleich eine goldene.
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Voss: Meine harte Arbeit wurde endlich belohnt, darum hat der Erfolg in Baku für mich auch einen besonders hohen Stellenwert. Der Weg zu den Olympischen Spielen 2021 war ziemlich holprig, aber jetzt fühle mich gut, in aufsteigender Form und freue mich auf diesen Sommer.
… der ja einige Höhepunkte parat hat: Vom 23. bis 26. Juni wird die DM im Rahmen der „Finals“ in Berlin ausgetragen. Die „European Championships“ finden vom 11. bis 21. August in München statt. Und dann gibt es noch die Turn-Weltmeisterschaften vom 28. Oktober bis zum 6. November in Liverpool. Worauf freuen Sie sich am meisten?
Voss: Sportlich schaue ich von einem großen Wettbewerb zum nächsten. Ich mag dieses Konzept der „Finals“ sehr und freue mich auch auf das Event. Ich habe dort auch tolle Erfahrungen gemacht, wie 2019 mit meinem Titel im Mehrkampf. Aber ein besonderes Highlight ist die Heim-EM. Meine ganze Familie wird da sein, viele Freunde werden kommen. Und vielleicht kommt im Münchner Olympia-Park sogar ein bisschen Olympia-Feeling auf.