Doha. Durch Putins Angriffskrieg auf die Ukraine werden die Beziehungen zum WM-Gastgeber Katar neu bewertet. Ein Besuch.
Wer einen besseren Überblick vom hektischen Doha in der Woche der Auslosung zur 22. Fußball-WM bekommen möchte, der muss hoch hinaus. Im La Vista 55, einer der zahlreichen Wolkenkratzerbars im 55. und 56. Stock des Intercontinental Hotels, bekommt man einen 360-Grad-Blick über die Stadt und ihre Hochhäuser.
„Ganz oben“ kostet viel Geld
Der zähfließende Verkehr der Omar Al Mukhtar Street wirkt aus luftiger Höhe wie eine nicht enden wollende Raupe Nimmersatt. Auch das Doha Exibition Convention Center (DECC), in dem an diesem Freitag ab 18 Uhr die WM-Auslosung stattfinden wird, erscheint winzig. Im Gegensatz zu den Preisen. Ein Bier der Marke Corona kostet 50 Riyal, 12,50 Euro, eine Flasche Dom Perignon gibt es für 860 Euro. Das „ganz oben“ muss man sich in Katar leisten können.
55 Stockwerke weiter unten, auf dem Boden der Tatsachen, hoffen DFB-Manager Oliver Bierhoff und Bundestrainer Hansi Flick, die am Donnerstag eingeflogen sind, weniger auf bezahlbare Drinks als eher auf gute Lose. Logistisch sind Bierhoff und Flick schon einen Schritt weiter. Zwei Edelhotels wurden geblockt – und der Favorit könnte nicht weiter weg von den Hochhäusern und den Staus sein.
„Verehrte Gäste, es ist mir eine große Ehre, Sie im Zulal Wellness Resort By Chiva Som willkommen zu heißen“, sagt Nasser Matar Al-Kwarti, der Chef der neuen Luxusanlage im Norden Katars, drei Tage vor der Auslosung. 80 geladene VIP-Gäste sitzen auf der Terrasse und lauschen bei der offiziellen Hoteleröffnung den Worten des CEO. Zur Begrüßung gibt es zwei Drinks – natürlich alkoholfrei. Das im vergangenen November fertiggestellte Luxushotel, das ab dieser Woche offen für Buchungen ist, soll nach Bierhoffs Wünschen das Campo Bahia in der WM-Wüste werden.
„Die Deutschen?“, fragt Denys gespielt überrascht. „Wirklich?“ Der ukrainische Mitarbeiter der Zulal-Marketingabteilung hält dicht. Solange noch nichts verkündet ist, will am Tag der Hoteleröffnungsfeier niemand offiziell bestätigen, was inoffiziell jeder weiß: Hier, knapp anderthalb Auto-Stunden nördlich von Doha, irgendwo im Nirgendwo am Persischen Golf, soll die deutsche Nationalmannschaft ihr Quartier aufschlagen. Die Alternative soll Bayern Münchens Wintertrainingslager-Herberge in der Aspire Academy im trubeligen Doha sein.
„Doha könnte von dieser Oase der Ruhe nicht weiter weg sein“, sagt Denys, der Glück hat, selbst gerade weit weg zu sein. Seine Familie wohne in der Ost-Ukraine, seine Schwester sei geflüchtet. „Die Welt spielt verrückt“, sagt der Ukrainer, der vor fünf Wochen nicht für möglich gehalten hätte, was dann doch passierte: Russlands Angriffskrieg, der die bisherige Weltordnung auf den Prüfstand stellt. Wer gestern noch als gut oder zumindest verlässlich galt, ist heute böse.
Und umgekehrt.
Robert Habeck hofft auf Gas
„Ich bin jetzt hier in Doha am zweiten Tag einer Reise, die irgendwie total merkwürdig ist“, beginnt Robert Habeck sein Twitter-Video, in dem Deutschlands Wirtschafts- und Energieminister erklären will, warum er vor wenigen Tagen ausgerechnet im fernen Katar für eine bessere Welt kämpft. „In der Ukraine sterben die Menschen und hier seht ihr ja wie die Skyline aussieht“, sagt Habeck. Sein Katar-Ziel: Kurzfristig die Fördermenge von Gas zu erhöhen, um das russische Gas zu ersetzen und langfristig an einer neuen Partnerschaft mit dem Wüstenemirat zu arbeiten.
Wenn das deutsche WM-Motto 2006 „Zu Gast bei Freunden“ lautete, dann kann man 2022 nun vielleicht von „Zu Gast bei neuen Freunden“ sprechen.
„So langsam kann es losgehen“, sagt auch Ronald de Boer. Der Niederländer ist in diesen Tagen ein gefragter Mann. Sieben Jahre lang lebte der frühere Mittelfeldstar in Doha. Seit der WM-Vergabe ist de Boer offizieller (und gut bezahlter) Botschafter Katars – und füllt seine Rolle ganz nach dem Geschmack der Scheichs aus.
Neuer Bericht kritisiert Ausbeutung
Dienstagabend im 14. Stock des Al Bidda Towers im Hauptbüro des WM-Organisationskomitees – und de Boer liefert: „Im Westen glaubt man ja, dass die Frauen hier alle vollverschleiert sind und dass man keinen Alkohol trinken kann. Wenn man aber auf seinem goldenen Thron sitzt, dann denkt man eben, dass das alles wahr ist. Ich habe sieben Jahre lang in Katar gewohnt – und ich habe so etwas nie beobachten können.“
Es klingt fast ein wenig wie der berüchtigte Franz-Beckenbauer-Spruch: „Ich habe noch keinen einzigen Sklaven in Katar gesehen“, hatte der Kaiser vor neun Jahren gesagt. Dabei urteilt Amnesty International gerade erst in seinem Jahresbericht, dass Arbeitsmigranten in 2021 trotz staatlicher Reformen „weiterhin von Ausbeutung betroffen“ seien.
Er habe die neuen Berichte noch nicht gelesen, sagt Nasser Al-Khater am Mittwochnachmittag. Der Chef der WM 2022 steht mit bestem Blick auf die Doha-Skyline an der WM-Countdown-Uhr und schaut den deutschen Fragensteller an. „Ich muss eine Auslosung vorbereiten“, sagt er ernst. Und verabschiedet sich. „Es ist noch viel zu tun.“