Peking. Trotz eines Patzers zerbricht Eiskunstlauf-Star Kamila Walijewa nicht am Dopingverdacht. Am Donnerstag winkt ihr im Einzel das zweite Gold.

Es ist der Moment, auf den die Olympischen Spiele nicht gewartet haben.

21.50 Uhr im Capitol Indoor Stadium von Peking, Kurzprogramm der Damen im Eiskunstlauf. Kein Kratzen ist zu hören, als die rasierklingenscharfen Kufen von Kamila Walijewas Schlittschuhen feine Linien in das Eis malen. Die Kameramänner und Fotografen richten ihre Objektive auf die 15 Jahre alte Russin. Man könnte jede Pirouette von ihr, jede Schraube in die Luft bestaunen, weil Kamila Walijewa ein Jahrhunderttalent, die beste Eiskunstläuferin der Welt ist.

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Nun muss sich aber jeder einzelne Blick von den Rängen auf ihrem zierlichen Körper wie ein Nadelstich anfühlen – weil die bevorstehenden 170 Sekunden nicht einfach der erste Schritt zu ihrem möglicherweise zweiten Gold sein werden, sondern Teil eines der größten Dopingskandale der jüngeren Olympiageschichte.

Kamila Walijewa darf nur unter Vorbehalt starten

Das chinesische Publikum sorgt auf dem Applausometer für einen leichten Ausschlag, als ihr Name aufgerufen wird. Es leistet Walijewa seelische Unterstützung an einem Tag, der für so ein junges Mädchen überfordern muss. Es gibt eine positive Dopingprobe von ihr und ein Eilverfahren. Weil sie noch so jung ist und geschützt werden muss in einem lange nicht geklärten Fall, darf sie unter Vorbehalt starten.

Wie zum Trotz drückte sie eben bei der Vorstellung noch die Brust heraus, warf den Kopf nach hinten, streckte die Arme mit dem Glitzer am fliederfarbenen Stoff aus. Als die Klaviermusik zu Kirill Richters In Memoriam beginnt, strahlt Kamila Walijewa nur eines aus: mehr Kälte als das Eis unter ihr.

Das verbotene Mittel soll vom Großvater kommen

Für die Athletin aus Russland muss sich alles wie ein Spießrutenlauf anfühlen. Am Morgen wird bekannt, wie das Herzmittel Trimetazidin in ihren Körper gelungen sein soll. Zu ihrer Verteidigung habe sie bei der Anhörung beim Sportgerichtshof Cas angegeben, sich als brave Enkelin daheim um ihren Opa gekümmert zu haben.

Es sei zu einer „Verunreinigung mit einem Produkt gekommen, das ihr Großvater eingenommen hat“, sagt Denis Oswald, Mitglied des IOC-Exekutivkomitees, unter Berufung auf die Rechtsbeistände der Russin. Walijewa habe aus einem gleichen Glas getrunken wie der Großvater zuvor.

Viele unglaubliche Erklärungen zu Dopingvergehen

Ganz dünnes Eis. Ein verunreinigtes Glas? Die Sportwelt hat schon viele unglaubliche Geschichten zur Erklärung von Dopingvergehen gehört. Bei Langstreckenläufer Dieter Baumann war einst die Zahnpasta verunreinigt. Der US-Radprofi Floyd Landis gab mal an, zu viel Whiskey getrunken zu haben.

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Bei seinem Landsmann, Sprinter Dennis Mitchell, sollen Bier und zu viel Sex für auffällige Werte gesorgt haben. Da kam der vielleicht bekannteste Doper des Weltsports gerade langweilig herüber, als die gefallene Rad-Ikone Lance Armstrong lediglich sagte: „Ich habe nicht gedopt.“

Beim Axel wackelt die Landung

Kamila Walijewa läuft mit den Erwartungen Russlands und der Last der Welt auf ihren Schultern los. Vier Dreifachsprünge sieht ihr Kurzprogramm vor, gleich beim ersten, einem Axel, wackelt die Landung. Draußen hat ihre Trainerin Eteri Tutberidse ein rosafarbenes Stofftier vor sich liegen. Die Frau, die in ihrer Moskauer Drillschule Walijewa und die beiden anderen russischen Starterinnen unter ihren Fittichen hat, verzieht keine Miene.

Normalerweise steht ihre Vorzeigeschülerin, die Europameisterin, die Eisprinzessin sogar Vierfachsprünge so sicher, wie normale Menschen sich die Schuhe schnüren können. Bereits eine Stunde vor dem Wettbewerb beim Warmmachen knallt Walijewa beim Axel mit Knie und Schulter aufs Eis. Was das mit ihr macht, ist in der Arena nur zu erraten: Die Bildschirme auf den Presseplätzen, die ihre Konkurrentinnen vorher noch in Nahaufnahme zeigten, sind nun auf eine blaue Info-Tafel umgestellt.

US-Dopingfahnder Travis Tygard übt scharfe Kritik

Der olympische Einzel-Wettbewerb ist durch Kamila Walijewa um eine weitere Komponente erweitert worden. Zu Kurzprogramm und Kür gehört nun auch das eigentliche Dopingverfahren, das erst nach den Olympischen Spielen Fahrt aufnehmen wird und klären soll, ob Russland auch den Team-Sieg von Peking behalten darf.

Allerlei juristische Pirouetten, die auf die 15-Jährige warten, endlose Diskussionen. Was Travis Tygart, Chef der US-Anti-Doping-Behörde Usada zu der Aussage hinreißt: „Wenn Walijewa nachträglich disqualifiziert wird, hätte der Cas den Russen schon wieder erlaubt, die Olympischen Spiele zu verderben. Zum sechsten Mal nacheinander hat Russland die Spiele gekidnappt und sauberen Athleten ihre Momente gestohlen.“

Nicole Schott fordert ein höheres Mindestalter

In Peking wird es keine Siegerehrung, keine Medaillenvergabe geben, falls Walijewa auf dem Treppchen landet. „Das tut mir leid für diejenigen, die auf dem Podest stehen werden“, sagt Nicole Schott. Die Deutsche Meisterin aus Essen ist zehn Jahre älter als Kamila Walijewa, hat eben mit 63,13 Punkten eines der besten Kurzprogramme ihrer Karriere abgeliefert, geht als 14. in die Kür. Nun soll sie über den Wettbewerb sprechen, wie sie es gar nicht möchte.

„Es ist ein Präzedenzfall“, sagt Schott, sie könne sich kein Urteil erlauben, weil sie nicht die Fakten kenne. „Es wäre aber nicht so schlecht“, das Mindestalter für Startende hochzusetzen, fügt sie hinzu, am besten gleich auf 18 Jahre. Schott: „Es heißt jetzt ja auch Women's Figure Skating und nicht mehr Ladies' – und Woman, eine Frau, ist man in dem Alter noch nicht.“

Kamila Walijewa geht wortlos an den Journalisten vorbei

Deswegen gilt Kamila Walijewa ja auch noch als Wunderkind. Während ihrer restlichen Übung bleiben Patzer aus. Als die Musik ausklingt, sie sich auf die Schlittschuhspitzen stellt, bricht es aus ihr heraus. Sie weint, japst nach Luft, hat es für heute geschafft. 82,16 Punkte entsprechen nicht ihrer Vorstellung, reichen aber zur sicheren Führung. Das weiße Jäckchen übergezogen, verlässt Kamila Walijewa um 21.59 Uhr den Innenraum der Arena.

Wortlos zieht sie an den Journalisten vorbei. Nach der Kür am Donnerstag (11 Uhr deutscher Zeit) hat sie vielleicht ihre zweite Goldmedaille gewonnen. Was sie dazu sagen wird, ist wiederum der Moment, auf den alle bei den Olympischen Spielen warten.