Peking/Essen. Bob-Pilot Francesco Friedrich hat Doppel-Gold im Visier. Eine Annäherung an den wohl professionellsten Sportler seiner Disziplin.
Seinen ersten großen öffentlichenAuftritt hat Francesco Friedrich bei diesen Spielen bereits hinter sich. Bei der Eröffnungsfeier trug der weltbeste Bob-Pilot mit Eisschnellläuferin Claudia Pechstein die deutsche Fahne.
Ab Montag wird es für den 31-Jährigen aus dem sächsischen Pirna auf gewohntem Terrain ernst. Im Zweier- und im Vierer-Bob will er wie 2018 im südkoreanischen Pyeongchang Olympiasieger werden. 2021 blieb er bei allen Wettkämpfen ungeschlagen.
Auf der Suche nach dem Erfolgsgeheimnis des dreizehnmaligen Weltmeisters lohnt ein Gespräch mit René Spies. „Franz ist jemand, der unfassbar akribisch arbeitet“, sagt der Bundestrainer: „Ich kenne keinen anderen Bobfahrer, der alle Facetten unserer Sportart so professionell bedient. Von der Athletik über das Training im Eiskanal bis zum Kümmern um das Material.“
Beim Material zählt für Friedrich nur das Beste
Was Spies meint, war bei den Weltcup-Rennen zu beobachten – etwa in Innsbruck im November. Durch die strengen Corona-Maßnahmen im Hochinzidenzgebiet Tirol lebte das Team in einer Blase, pendelte nur zwischen Leichtathletik-Halle, Bahn und Hotel. Friedrich nahm dies kaum wahr: „Für Besuche in der Altstadt wäre sowieso kaum Zeit gewesen.“ Stattdessen: Training, Training, Training. Man hätte denken können, dass sich das „Team Friedrich“ auf ein großes Leichtathletik-Event vorbereitet. Mit Hürdenläufen, Trampolin-Sprüngen und Krafttraining.
Dabei überraschen die Leistungen der Anschieber nicht – viele Bob-Teams setzen seit Jahren auf ehemalige Leichtathleten. Thorsten Margis, 2018 Anschieber bei Friedrichs Olympiasieg im Zweier, kommt aus dem Zehnkampf, Candy Bauer, Anschieber in Friedrichs Gold-Vierer, war einst Kugelstoßer. Wirklich verblüffend indes der Chef selbst: Francesco Friedrich schultert im Krafttraining bei Kniebeugen 200-Kilo-Hanteln und kann seinen Oberkörper nach hinten biegen wie ein Yoga-Lehrer. „Franz bringt wahnsinnige athletische Fähigkeiten mit“, sagt Spies.
Jeden Abend wechselte das „Team Friedrich“ in den zur Werkstatt umfunktionierten Keller des Hotels. Mit feinem Schleifpapier wurden die Kufen poliert, aus dem Lautsprecher tönte ein Podcast mit Steuerspartipps. Beim Material zählt für Friedrich nur das Beste, für einen Spitzensatz Kufen zahlt er bis zu 15.000 Euro. „Ich war immer ein Materialtüftler“, sagt Friedrich.
Slogan auf dem Bob: „Eine Region schiebt an“
Doch weder Athletik noch Akribie können die Erfolgsserie Friedrichs allein erklären. Die Historie kennt Legionen von hochtalentierten Sportlern, die ewige zweite Sieger blieben, weil sie im entscheidenden Moment an ihren Nerven scheiterten. Nicht so Friedrich. „Ich bin jetzt seit 30 Jahren in der Bobszene dabei. Aber ich habe noch nie einen Piloten mit diesem Killerinstinkt erlebt“, sagt Spies.
Berlin, ein Tag Ende August. Francesco Friedrich kommt zum Interview in die Lobby des Marriott-Hotels in der Nähe des Potsdamer Platzes. Auf dem Tisch liegt ein von allen Bobfahrern signierter Helm, das Geschenk für eine Sponsoren-Veranstaltung am Abend. Im persönlichen Gespräch wirkt Friedrich nicht wie ein kaltblütiger Dominator, er spricht leise und nachdenklich, der Akzent seiner sächsischen Heimat ist unverkennbar.
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Wir reden über Familienglück, 2014 heiratete er seine Jugendfreundin Magdalena, das Paar hat zwei Söhne. Friedrich lehnt Homestorys strikt ab, Privates bleibt privat. Wir sprechen über den harten Kampf um die Finanzierung seines Sports. Den Slogan auf seinem Bob „Eine Region schiebt an“ betrachtet Friedrich als Verpflichtung. Er backt Brot für die örtliche Landbäckerei, verlost Helme und Mützen bei Wohltätigkeitsveranstaltungen. Und dann sprechen wir über den Moment, der seine Karriere hätte beenden können, bevor sie wirklich begann.
An diesem Tag im November 2006 steuert der 16-jährige Francesco Friedrich einen Zweier-Bob durch die Heimatbahn in Altenberg, es ist erst seine siebte Fahrt als Pilot. Hinter ihm sitzt sein vier Jahre älterer Bruder David, der ein Jahr zuvor in einem Viererbob schwer stürzte, drei Wochen mit einem schweren Schädelhirntrauma im Koma lag. In Kurve 13 verdreht sich Francescos Helm, er sieht nichts mehr, der Bob kippt. Während er nur Prellungen davonträgt, verletzt sich David erneut schwer, bricht sich einen Rückenwirbel. Der Bruder erholt sich, das Duo macht weiter – und rast bei der Junioren-WM 2011 zu Silber.
Lob von Bruder David
„Aber ich habe dann doch aufgehört, da ich nach den Fahrten oft schwere Migräne-Anfälle hatte. Wahrscheinlich hat sich durch den Rückenwirbelbruch ein Nerv eingeklemmt“, erzählt David Friedrich. Hat er jetzt Angst um seinen Bruder? „Nein, Franz ist Vollprofi. Er weiß genau, was er tun muss. Er achtet auf alles.“ Wie Spies preist er Francescos „unheimliche Athletik“. In den Jugendjahren habe man damit nicht rechnen können. „Ich war der bessere Athlet.“ Mit Disziplin und Ehrgeiz habe sein Bruder an seiner Fitness gearbeitet, sich von Rückschlägen nie entmutigen lassen. „Franz lässt sich durch äußere Umstände nie aus der Ruhe bringen.“
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Wissenschaftler sprechen von Resilienz, von der Fähigkeit, negativen Einflussfaktoren standzuhalten. Erst die Rückschläge, so scheint es, haben Francesco Friedrich zu „Friedrich, dem Großen“ gemacht. „Am Anfang meiner Karriere hat mir ein Trainer gesagt, dass mein Potenzial nicht reicht“, sagt er. Also trainierte Friedrich noch härter, arbeitete als Bademeister auf 400-Euro-Basis, um seinen Sport zu finanzieren.
Umstände, die nicht zu ändern sind, akzeptiert Friedrich klaglos. Die drei Wochen Olympia-Vorbereitung in Peking im vergangenen Oktober mit dem strikten Verbot, ohne Begleitung das Hotel oder die Bahn zu verlassen, hätten bei seinem Team einen Lagerkoller auslösen können. Friedrich sagt nur: „Das war gar nicht so schlecht, denn so konnten wir uns auf die Bahn, das Training und das Materialtesten konzentrieren. Alles andere war ohnehin Nebensache.“ Spies kennt diese Einstellung von den Spielen in Pyeongchang. Vor vier Jahren klagten viele deutsche Sportler über zu harte Matratzen und baten um Abhilfe: „Als wir Franz gefragt haben, ob er mit dem Bett klarkommt, hat er uns angeguckt, als würde er die Frage gar nicht verstehen. Er hat gesagt, ‚ist doch alles gut‘, der war schon im Tunnel.“ Spies ist überzeugt, dass man seinen besten Mann in Peking auch auf ein Brett betten könnte: „Der zieht trotzdem sein Ding durch.“ Sein Ding, das ist das erneute Doppel-Gold.
- Die komplette Reportage über das Bobteam Friedrich lesen Sie im Heft „PEKING.22“, das auf 148 Seiten über die deutschen Sportlerinnen und Sportler informiert. Das Magazin kostet fünf Euro. Zu bestellen online über www.2020magazin.de.