Peking/Essen. Eishockey-Bundestrainer Toni Söderholm spricht vor dem Auftakt gegen Kanada über den Charakter seines Teams und sehr große Ziele.
Sie waren Helden, und sie verspüren nun die Lust, zu Legenden zu werden. Goldene Ambitionen formuliert der eine oder andere Profi aus der Auswahl des Deutschen Eishockey-Bundes (DEB) vor dem ersten Auftritt bei den Olympischen Spielen. Nach dem Coup vor vier Jahren, als die Mannschaft mit Marco Sturm an der Bande überraschend zu Silber stürmte, sind erneut große Hoffnungen im Spiel. Bundestrainer Toni Söderholm (43) spricht vor dem Auftakt am Donnerstag gegen Kanada (14.10 Uhr, ZDF und Eurosport) über den Charakter seiner Mannschaft, veränderte Erwartungshaltungen und die Frage, ob sein Team der Zeit voraus ist.
Herr Söderholm, Sie sagten zuletzt einmal, dass Sie mit Bleistift planen aufgrund der Umstände. Wie oft mussten Sie radieren?
Toni Söderholm: Bei der vergangenen WM musste ich radieren, beim Deutschland Cup und jetzt auch. Vor allem natürlich, als die nordamerikanische NHL die Entscheidung getroffen hat, ihre Spieler nicht nach Peking zu schicken.
Sicher spielten Corona und die Sorge, dass der halbe Kader zum falschen Zeitpunkt in Quarantäne muss, auch eine Rolle. Wie sehr beeinflusste Sie das?
Die Vorfreude war immer da, genauso wie die Sorgen. Die Wellen waren drin in den DEL-Mannschaften. Da geht einem viel durch den Kopf. Wer war positiv? Wer noch nicht? Wann ist der letzte Tag, an dem einer aus der Quarantäne kommen könnte? Das hat schon auf uns eingewirkt. Was ich aber sehr angenehm fand: Wir hatten Ende Januar mit dem Kader einen Team-Call, bei dem wir einige Fragen klargestellt haben. Da war eine gewisse Ruhe drin. Wir haben uns so gut vorbereitet, wie wir konnten. Ich wünsche mir, dass die Spieler ihren Traum wahr werden lassen können und würde selbst gern alle schlechten Gedanken ausblenden. Aber das geht nicht mal eben so, denn diese Sorgen sind einfach relevant.
Fällt es Ihnen als Trainer ein wenig leichter, mit allem umzugehen, weil Sie ein sehr stabiles Team geschaffen haben?
Das gibt, glaube ich, allen von uns Selbstvertrauen. Über diese Olympiade haben wir uns eine starke Identität aufgebaut. Darin können sich die Spieler wiedererkennen, auf mehreren Ebenen. Daher bin ich zuversichtlich, dass wir vorbereitet sind und uns nicht so stark ablenken lassen, sollte irgendwas passieren. Riga bot bei der jüngsten WM auch kein einfaches Umfeld. Und damals sind alle unglaublich gut damit umgegangen. Wenn alle gesund sind, ist Peking sogar offener für uns als Riga es war.
Das Team steht unter Söderholm über allem
Wie lässt sich diese Identität umschreiben?
Das Team steht über dem Ich. Dazu gibt es eine gewisse Bodenständigkeit, eine Bereitschaft, aus sich selbst herauszukommen, um den anderen stärker zu machen, um uns stärker zu machen. Und es gibt einen gewachsenen Glauben, dass wir Möglichkeiten haben, Großes zu erreichen.
Das sind übergeordnete Dinge. Was zeichnet das Team in seinen sportlichen Fähigkeiten aus, in seinem Stil?
Wir haben viel auf einer stabilen Defensive aufgebaut und verstehen immer besser, dass wir uns auch auf der offensiven Seite des Spiels defensiv gut verhalten müssen. Und andersherum, dass wir defensiv eine Bereitschaft haben müssen, schnell offensiv zu spielen. Dabei haben wir uns gut entwickelt in letzter Zeit. Wir vertrauen nicht auf Glück und Zufall, sondern konzentrieren uns auf das, was uns stark macht.
Wie schwer war es, diese Fähigkeiten hervorzuheben?
Das ist eine normale Arbeit, darin liegt die Verantwortung eines Trainers, dass er sieht und spürt, wo die Jungs am meisten Potenzial haben, das noch ungenutzt ist. Für jedes Turnier, das wir zuletzt gespielt haben, haben wir uns so die jeweils größte spielerische Herausforderung gesucht. Dabei orientieren wir uns ebenso an den Gegnern, mit denen wir uns immer vergleichen – und müssen uns hoffentlich schneller als diese entwickeln. Das ist er einzige Weg, wenn wir erfolgreich sein wollen.
Die Spieler jubilieren bei jedem Turnier, dass es toll sei zu sehen, welche Fortschritte das Team jedes Mal macht.Was lässt die Qualität der deutschen Profis, die sich auch in der steigenden Zahl der deutschen NHL-Akteure manifestiert, derart wachsen?
Ein wichtiger Punkt dabei ist, dass die tragenden Säulen immer zum Nationalteam kommen. Wenn du den Kern des Teams oft wechseln musst, ist es schwierig, einen gemeinsamen Weg zu gehen. Unser Kern ist jetzt in einem guten Alter. Das Mitmachen in der Champions Hockey League hat unseren Spielern dabei geholfen zu wachsen, weil sie gegen Teams aus anderen Nationen gespielt haben. Das hat die Spieler vielfältiger gemacht. Genau wie die Tatsache, dass unsere Spieler in mehr Ligen unterwegs sind wie etwa in Schweden und der Schweiz. Die neuen Abläufe und Herangehensweisen an den Sport bringen sie weiter. Auch das Training hier in den Vereinen, schon im Nachwuchs, wird immer besser. Die technischen Fähigkeiten steigern sich immer mehr. Alles in allem ist es eine Summe von vielen Sachen.
DEB-Auswahl ist ihrer Zeit ein Stück voraus
Als Bundestrainer müssen Sie das alles also nur noch zusammenbringen?
Genau, und dabei darauf achten, dass es nicht zu viel auf einmal ist, was man möchte. Weniger ist mehr, lautet meine Überzeugung. Es darf kein Chaos entstehen. Es bringt niemandem etwas, wenn man 80.000 verschiedene taktische Vorgaben hat. Ein starker Stamm ist wichtig, der Rest sind Kleinigkeiten. Gerade bei so einem Turnier jetzt, bei dem es noch weniger Partien gibt als bei einer WM, muss sich das Spiel des Teams, das Selbstverständnis noch schneller entwickeln.
Das gelang 2018 perfekt und endete mit einer großen Sensation. Wie hat sich die Erwartungshaltung verändert seither?
Die Erwartung ist schon da, dass wir um die Topplatzierungen kämpfen. Das Selbstvertrauen, dass uns das gelingen kann, ist stärker und stärker geworden. Aber man muss aufpassen, dass man nicht denkt, dass alles automatisch passiert. Wir müssen uns in diesem Turnier jeden Tag besser zusammenfinden, im Training oder Spiel, dann schaffen wir hoffentlich ein Umfeld, in dem die Spieler sich mental und körperlich so stark fühlen, dass uns das alle Möglichkeiten gibt.
Das Ziel des DEB-Programms „Powerplay 26“ ist es, in ein paar Jahren konstant um die Medaillen mitzuspielen. Wer die Auftritte der Mannschaft sieht, könnte meinen, dass da nicht mehr viel fehlt. Sind Sie und das Team den DEB-Plänen ein Stück voraus?
In einem Turnier kann sehr viel passieren, und es entscheidet nur sehr wenig darüber, was passiert. Vielleicht liegen wir vor dem Plan, ja. Wenn wir das Gefühl haben, dass etwas Gutes gelingen kann, dann müssen wir das mitnehmen. Wir wollen den Erfolg, die Jungs sind bereit für den nächsten Schritt. Dafür werden wir alles tun. Ich rechne aber mit vielen Nationen. Es geht immer nur um ein Spiel, wenn da alles stimmt, kann jemand mehr oder weniger überraschen und sich in die Medaillenpartien hineinspielen. Die Hoffnung ist sicherlich, dass wir um die Medaillen kämpfen.
Situation kann ein Vorteil sein für das deutsche Team
Früher hieß es immer, man müsse endlich den Abstand zur Weltspitze verringern. Jetzt liegt das Team auf Platz fünf der Weltrangliste. Gibt es überhaupt noch einen Abstand?
Wir sind ein starker Kandidat, wenn es darum geht, die Weltspitze herauszufordern. Uns fehlt ein bisschen Masse und Breite, wenn wir uns mit anderen vergleichen. Das ist der Punkt, bei dem noch viel Arbeit vor uns liegt. Wir müssen noch mehr starke Spieler produzieren.
Reden wir aktuell nur über eine starke Generation oder mehr? Wie nachhaltig ist der jetzige Status?
Das Wichtigste ist, nicht stehenzubleiben. Nicht davon auszugehen, dass es jetzt von allein läuft. Man muss noch mehr erreichen wollen und noch härter dafür arbeiten, dass man es bekommt. Es darf keine Zufriedenheit geben.
Die nordamerikanische NHL hat darauf verzichtet, ihre Spieler nach China zu schicken.Damit ergibt sich eine Situation wie 2018, wo viele der Topstars des Eishockeys ebenfalls fehlten. Es drängt sich der Gedanke auf, dass das deutsche Team erneut davon profitieren kann. Würden Sie dem folgen?
Das ist ein sehr gefährlicher Ansatz. So schnell, wie der Sport und die Athleten sich heutzutage entwickeln, sitzt man im falschen Boot, wenn man denkt, was vor vier Jahren ging, muss auch jetzt funktionieren. Die besten Spieler, die zur Verfügung stehen, werden sich miteinander messen. Das Gute ist aber, dass ich niemanden kenne, der einen großen Erfolg errungen hat und das nicht noch einmal erleben will. Viele aus unserem Team wissen, dass es sich lohnt zu arbeiten. Dieses Gefühl wollen sie noch einmal haben. Aber wir dürfen im Kopf nicht zu viele Schritte voraus sein, sondern müssen jeden nacheinander angehen.
Das heißt, sich in der Gruppe zunächst auf Kanada, China und die USA zu konzentrieren. Wie klingt es für Sie, wenn die USA mit 15 Collegespielern anreisen?
Am College wird auch Männer-Eishockey gespielt. Die Partien sind hart umkämpft und temporeich, in der Technik hat sich viel entwickelt. Dazu sind die Spieler oft begierig auf Neues und bereit, mutig zu spielen. Für uns geht uns weniger darum, wer in einem Team spielt, sondern wo die Spieler herkommen. Jede Nation hat ihre eigenen Qualitäten, darauf kann man sich immer einstellen. Und Kanada und die USA sind auch ohne NHL-Profis immer noch Mannschaften mit viel Qualität. Aber sie haben so noch nie zusammengespielt.
Genau darin liegt der Vorteil des DEB-Teams, das seit Jahren gewachsen ist.
Wenn alle zur Verfügung stehen, stimmt das.