Peking. Durch ihre achte Olympia-Teilnahme zieht Claudia Pechstein mit Noriaki Kasai gleich. Der Japaner spricht über 30 Jahre Winterspiele.
Es geht direkt gut los für Noriaki Kasai – wenn man das denn so sagen kann. Immerhin kann der 49-Jährige diesmal ja nicht aktiv teilnehmen an den Olympischen Winterspielen in Peking, er hat sich nicht qualifiziert. Aber am Sonntag bietet sich seinem Heimatland Japan die große Chance auf Gold: Kasai wird als TV-Kommentator mitfiebern, ob Ryoyu Kobayashi Karl Geiger von der Normalschanze (ab 11.50 Uhr deutscher Zeit/ZDF) abhängen kann. Tags zuvor kann sich die Skisprung-Legende sogar noch einer anderen Sportart widmen: Eisschnelllauf, und zwar aus einem guten Grund. Wenn Claudia Pechstein (49) am Samstag über 3000 Meter (9.30 Uhr deutscher Zeit/ARD) an den Start geht, geschieht Sporthistorisches. Es sind ihre achten Olympischen Spiele, das hat bisher noch keine Frau geschafft. Nur ein Mann: Noriaki Kasai eben. Wie für einen Japaner üblich, hat Kasai in einem seiner seltenen Interviews großen Respekt vor Claudia Pechstein. Und einen Wunsch für sie beide, der in vier Jahren aber erst Realität werden könnte.
Herr Kasai, haben Sie Claudia Pechstein beim Eisschnelllauf schon mal zugesehen?
Noriaki Kasai: Es tut mir leid, aber ich habe sie noch nie gesehen.
Vielleicht sollten Sie sie mal treffen und die Schlittschuhe schnüren und ein paar Runden laufen. Um über drei Jahrzehnte Olympische Spiele sprechen zu können.
Kasai: Mir wurde in der Tat schon von vielen Leuten aus Japan und dem Ausland gesagt: Es ist erstaunlich, dass du so oft an den Olympischen Spielen teilgenommen hast und seit Jahrzehnten aktiv bist. Wir hätten auf jeden Fall viel zu erzählen, es ist ja wirklich eine lange Zeit. Aber auf die Schlittschuhe würde ich verzichten.
Claudia Pechstein ist nun wie Sie achtmal bei Olympischen Winterspielen dabei. Was sagen Sie dazu, diesen Thron mit ihr zu teilen?
Kasai: Es ist wirklich etwas Besonderes, so lange dabei zu sein. Sie gibt ihr Bestes, sie verfolgt ihre Träume. Ich hoffe, dass sie nicht aufgeben, sich nicht zur Ruhe setzen wird und sich ihre Leidenschaft noch für ihre neunten Olympischen Spiele beibehalten wird.
Sie waren vor 30 Jahren in Albertville erstmals bei den Winterspielen. Woran erinnern Sie sich bei Ihren olympischen Anfängen?
Kasai: Damals war ich ja erst 19 Jahre alt, und es war das Jahr, in dem sich der Sprungstil von der klassischen Form zur V-Form verändert hat. Ich bin noch im alten Stil gesprungen und habe erst einen Monat vor den Spielen in Albertville zum V-Stil gewechselt. Dementsprechend nervös war ich, ob ich mit dem V richtig ins Fliegen kommen würde. Leider waren die Ergebnisse bei allen drei Wettbewerben überhaupt nicht gut – das Kapitel Olympia ist also für mich ein bisschen frustrierend losgegangen.
Wären Sie gerne noch mal so jung, um alles von vorne zu erleben?
Kasai: Nein, überhaupt nicht. Weil ich ein nervöser Mensch bin. Und wenn ich zu aufgeregt bin, mache ich viele Fehler. Ich musste viel Erfahrung sammeln, sogar 30 Jahre alt werden, um herauszufinden, wie ich die Nervosität vor einem Sprung ablegen kann. Das hat mich zehn Jahre meiner Karriere gekostet. Nein, so jung möchte ich nicht noch mal sein – aber ich hoffe, dass ich noch mal wie einst als 19-Jähriger in Albertville springen kann.
Auch Claudia Pechstein hat in Albertville ihr Olympia-Debüt gefeiert. Wie haben sich die Spiele über all die Jahre geändert?
Kasai: Der Kern der Olympischen Spiele bleibt derselbe. Ich habe gemerkt, wie schwierig es ist, zu diesem Höhepunkt, den es nur alle vier Jahre so gibt, in Topform zu sein. Als ich noch jünger war und an den Olympischen Spielen teilnahm, wusste ich nicht, was auf mich zukam. Ich war sehr verunsichert. Aber Vancouver 2010 hat mir gezeigt, dass es wichtig ist, seine körperliche und geistige Verfassung zu kontrollieren, um an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Ich habe eine Menge guter Erfahrungen gesammelt, ehe mir klar wurde: Ich kann das schaffen, erfolgreich zu sein.
Das erklärt, warum Sie 1998 bei Japans Mannschafts-Gold in Nagano nicht dabei waren, dafür aber 2014 in Sotschi Silber gewannen und nur knapp an Gold vorbeischrammten.
Kasai: Als ich in Sotschi vom Wettkampf ins Olympische Dorf zurückkehrte und die Türe zu meinem Zimmer öffnete, war ich wirklich enttäuscht, dass ich die Goldmedaille verpasst hatte. Bei der Ankunft zu Hause jedoch sagten mir viele Leute, dass sie von meiner Leistung beeindruckt waren, sie dankten mir für meinen Traum und meinen Mut. Überall wurde ich darauf angesprochen, eine Inspiration für andere Menschen zu sein. Ich hatte das Ziel, Gold zu gewinnen. Aber ich musste erst nach Japan zurückkommen, um mich auch mit einer Silbermedaille glücklich zu fühlen.
Bei Ihnen geht es nur um Sekunden eines Fluges, bei Claudia Pechstein um Ausdauer auf langen Strecken. Verraten Sie uns, wie ist es schaffen, die Zeit immer wieder zurückzudrehen und erfolgreich zu sein.
Kasai: Ein Geheimrezept gibt es da gar nicht. Es geht geht nur um Gefühle und Disziplin, nicht einmal so sehr um gesunde Ernährung oder ausreichend Schlaf. Während der Spiele in Sotschi wurde mir klar, dass Gott dir das Glück und das Schicksal schenken wird, das du verdienst, wenn du richtig trainierst und diszipliniert dem Weg folgst, an den du glaubst. Offensichtlich war es gut für mich, dass ich sogar einen so großen Umweg gegangen bin, um erfolgreich zu sein.
Gab es mal Momente, an denen Ihnen der Gedanke kam: Jetzt reicht’s, der Körper schreit „Nein“?
Kasai: Ich habe nie die Grenzen meines Körpers gespürt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so lange durchhalten würde. Als Masahiko Harada bei den Olympischen Spielen 2006 in Turin im Alter von 37 Jahren zurücktrat, wusste ich, dass ich es immer noch schaffen kann. Meine Hauptmotivation war, dass ich in Nagano keine Goldmedaille gewonnen hatte und meine Familie mich danach sehr unterstützt hat. Ich war sehr enttäuscht, dass ich meiner verstorbenen Mutter und meiner Schwester nicht zeigen konnte, dass ich die Goldmedaille gewonnen hatte. Aber jetzt bin ich verheiratet und habe zwei Kinder, also bin ich sehr motiviert, meiner neuen Familie zu zeigen, dass ich die beste Goldmedaille habe.
War Skispringen damals schöner als heutzutage?
Kasai: 1988 war ich im dritten Jahr der Junior High School, bin da schon weit gesprungen und habe Erwachsene in Testwettkämpfen besiegt. Da kam das Gerücht auf, dass ich mit zu den Winterspielen in Calgary sollte. Damals gab es ja keine Handys, also habe ich aus dem Hotel meine Familie angerufen und ihr davon berichtet. Das war schon sehr aufregend. Heute denke ich, dass der klassische Sprungstil von damals ein bisschen cooler war, auch wenn sich das V-Förmige anfühlt, als würde man mit einem offenen Segelschirm zu Boden gleiten.
In den drei Jahrzehnten hatten Sie viele Konkurrenten. Hatten Sie eine Art Lieblingsgegner?
Ich denke, die Athleten, die mit mir um den Sieg gesprungen sind, waren sowohl meine Rivalen als auch meine Freunde. Das fing mit Jens Weißflog an, ging über Matti Nykänen, Martin Schmitt, Andreas Goldberger, Adam Malysz, Janne Ahonen, Simon Ammann und Kamil Stoch weiter. Wobei: Kamil war schon mein Lieblingsgegner.
Peking werden Sie nicht von der Schanze aus erleben. Wie fühlt es sich an, das erste Mal nach so langer Zeit aussetzen zu müssen?
Kasai: Es ist schmerzhaft. Ich wollte an meinen neunten Olympischen Spielen als Athlet teilnehmen, aber leider werde ich diesmal nur als TV-Kommentator antreten. Ich bin sehr frustriert, möchte in der neuen Funktion aber leidenschaftlich sein und meine Landsleute zum Sieg springen sehen. Und die Frustration nehme ich dann als Motivation mit in die nächsten vier Jahre.
Sie bleiben noch bis zu den Winterspielen 2026 in Cortina d’Ampezzo dabei? Dann könnten Sie sich ja auch noch mit Claudia Pechstein treffen und mit ihr über Olympia philosophieren…
Kasai: Natürlich möchte ich es schaffen, 2026 anzutreten. Und wenn das wahr wird und ich Claudia Pechstein treffen kann, würde ich mich gerne mit ihr über die Olympischen Spiele und den bisherigen Weg unterhalten.