Hamburg. Die Fußball-WM in Katar ist umstritten, die Zahl der Kritiker groß. Doch es gibt auch Befürworter - wir haben mit einem gesprochen.

An den 2. Dezember 2010 kann sich Stephan Hildebrandt nicht mehr wirklich erinnern. Wahrscheinlich sei er gerade irgendwo zwischen Hamburg und Cottbus unterwegs gewesen, orakelt der Berliner, als er nach dem Tag der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft an Katar gefragt wird. Woran sich der 48-Jährige aber sehr wohl erinnern kann, ist sein damaliges rudimentäres Wissen über das Emirat. „Ich wusste nur, dass Katar ein Staat am Persischen Golf ist, der seine Gastarbeiter schlecht behandelt.“

Nun, dieser Staat am Persischen Golf, der seine Gastarbeiter auch elf Jahre später noch schlecht – oder besser: teilweise sehr schlecht bis menschenunwürdig – behandeln soll, wird auf den Tag in 300 Tagen das bedeutendste Sportereignis der Welt ausrichten. Und obwohl knapp zehn Monate vor dem ersten Anstoß der 22. Fußball-WM die globale Kritik am ersten Turnier im arabischen Raum noch immer groß ist, gibt es elf Jahre nach der umstrittenen WM-Vergabe auch Befürworter dieser Katar-WM.

Viele Gastarbeiter sind gestorben

Stephan Hildebrandt sitzt in seinem Arbeitszimmer, durch das Fenster kann man das Ufer des brandenburgischen Flakensees erahnen. Der frühere Nachwuchsleiter des Hamburger SV, der zwischen 2013 und 2018 fünf Jahre lang den Fußballbereich der anerkannten Aspire Academy in Doha geleitet hat und seitdem deutlich mehr als seine beiden Katar-Fakten von 2010 über das Emirat weiß, hat sich auf dieses Gespräch vorbereitet. Er ahnt, dass er in Deutschland eine Minderheitenmeinung vertritt, scheut sich aber nicht, diese auch auszusprechen: „Knapp 100 Jahre nach der ersten WM muss die Frage erlaubt sein, warum nicht auch mal eine Weltmeisterschaft in Arabien ausgetragen werden kann“, sagt er. „Schließlich hat die Fifa den Anspruch, die ganze Welt zu vertreten.“

Stephan Hildebrandt
Stephan Hildebrandt

Knapp zwei Stunden hat sich Hildebrandt für das Gespräch über seine alte Wahl-Heimat, auf die in diesem Jahr der Scheinwerfer der Weltöffentlichkeit gerichtet ist, Zeit genommen. Und natürlich kennt auch er die Statistiken, die in den vergangenen Wochen überall verbreitet wurden: Im Jahr 2021 lag Katar im Ranking der Pressefreiheit auf Platz 128 (von 180 Staaten), im Demokratie-Index, den die britische Zeitschrift „The Economist“ jährlich misst, belegt der Zwergstaat, der nur halb so groß wie Hessen ist, den 126. Platz. Und im Gleichstellungsindex des World Economic Forums ist Katar sogar auf den 142. (von 156 Staaten) abgerutscht.

Die aber beängstigendste Zahl hat im vergangenen Jahr der „Guardian“ veröffentlicht: 6500. So viele tote Bauarbeiter soll es seit der WM-Vergabe gegeben haben. Und sie alle stehen stellvertretend für eine Frage: Sollte so ein Land wirklich eine Fußball-WM austragen?

Fußball-WM: Gruppen werden am 1. April ausgelost

Die Winter-WM in Katar wird vom 21. November bis zum 18. Dezember ausgetragen. Aufgrund der extrem hohen Temperaturen im Sommer in dem Emirat hatte der Weltfußballverband Fifa nachträglich beschlossen, das Turnier in den Winter zu verlegen.

32 Nationen nehmen an der Weltmeisterschaft teil. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat sich bereits qualifiziert. „Wir wollen Weltmeister werden“, hat Bundestrainer Hansi Flick gesagt.

Am 1. April 2022 werden die Gruppen für die WM in Katar ausgelost. Erst dann steht fest, auf welche Gegner sich Deutschland in der Vorrunde einstellen muss.

„Jeder Gestorbene ist eine Tragödie für sich“, sagt Stephan Hildebrandt, der die großen Probleme nicht relativieren will, dafür aber sensibilisieren möchte. „Natürlich ist es nicht zufriedenstellend und auch nicht zu rechtfertigen, wie in Katar mit Menschenrechten und Gastarbeitern umgegangen wird“, sagt der Fußballglobetrotter, der über das alte Beckenbauer-Zitat, er habe keinen einzigen Sklaven in Katar gesehen, nur mit dem Kopf schütteln kann: „Ich will Franz Beckenbauer nicht zu nahe treten, aber das war natürlich eine tendenzielle Aussage, die das Leid der Arbeiter dort mit Füßen tritt“, sagt Hildebrandt, der eine WM in der Wüste trotzdem für eine gute Idee hält. „Es ist zu einfach, zu behaupten, dass Katar sich mit den Mitteln moderner Sklaverei ein Saubermann-Image organisiert. Das ist Polemik.“ Hildebrandt atmet einmal tief durch. „Unsere moralische Diskussion muss schlüssig sein. Und es ist nicht schlüssig, ein sportliches Großereignis in einem Land zu boykottieren, das drittgrößter Abnehmer unserer Kriegswaffen ist. Da stimmt die Diskussion nicht.“

Sportlich will das Emirat bei der WM überraschen

Eigentlich liebt Hildebrandt vor allem die Diskussion über Fußball. Nachdem er gemeinsam mit dem Spanier Roberto Olabe (54/heute Real Sociedad) in der Aspire Academy Katars Fußballnachwuchs auf Vordermann bringen sollte, ist die U19-Nationalmannschaft nur ein Jahr später Asienmeister in Myanmar geworden. Es war der Startschuss einer goldenen Katar-Generation, deren A-Nationalteam 2019 sensationell Asienmeister wurde und die nun auch bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land mindestens für einen Achtungserfolg gut sein soll. Doch Hildebrandt musste schnell erfahren, dass man eben nicht nur über Fußball sprechen kann, wenn man in einem Land wie Katar gearbeitet hat.

„Wir müssen Missstände identifizieren und benennen. Dafür müssen wir vor Ort sein“, sagt Hildebrandt, der die feste Überzeugung hat, dass ein WM-Boykott die langsamen Fortschritte Katars nur torpedieren würde. „Auch Amnesty International sagt klar, dass sich die Dinge zum Besseren entwickelt haben. Und, dass das Turnier stattfinden muss. Boykottpolitik hilft an der Stelle nicht weiter.“ Als Beispiel für seine These nennt Hildebrandt vor allem die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. „Die Arbeitsgesetzgebung hat sich in Katar 2017 so verändert, dass es heute einen Mindestlohn gibt und dass die Pässe nicht mehr einbehalten werden. Die berüchtigte Kafala (ein Art Leibeigenen-System, die Red.) ist abgeschafft“, sagt Hildebrandt

Hildebrandts Frau war im Gefängnis

Der frühere Cottbus-Sportchef weiß, wovon er spricht. Seine eigene Frau hat er in Katar kennen und lieben gelernt. Sie selbst war Arbeitsmigrantin von den Philippinen, wurde vom Arbeitgeber nicht bezahlt und musste sogar in eine Art Abschiebe-Gefängnis. Doch sie klagte gegen den Arbeitgeber und bekam vor Gericht Recht. Ein Vorgang, den es vor der WM-Vergabe an Katar so wohl nicht gegeben hätte.

„Katar ist ein Land, das vom Mittelalter in die Neuzeit katapultiert wurde“, sagt Hildebrandt, der hofft, dass diese Entwicklung auch nach der WM noch weiter anhält. Und dabei nimmt er vor allem den Westen in die Pflicht. „Wir müssen versuchen, unseren Einfluss aufrecht zu halten und dadurch die Verhältnisse vor Ort zu verändern“, sagt Hildebrandt und ergänzt: „Katar ist sicher Profiteur einer zutiefst ungerechten Welt. Aber wir in Europa sollten vorsichtig sein. Wir profitieren auch von den Ungleichheiten auf diesem Planeten.“