Tokio. In Tokio finden die 100-Meter-Rennen statt: Shelly-Ann Fraser-Pryce greift nach einem Rekord. Die Männer suchen den Bolt-Nachfolger.
Lauf fünf, Bahn vier. Da steht die aktuell schnellste Frau der Welt, die erfolgreichste 100-Meter-Sprinterin überhaupt: Shelly-Ann Fraser-Pryce, Jamaikanerin, 34 Jahre alt, Mutter eines 2017 geborenen Sohnes. Sie ist die Olympiasiegerin von 2008 in Peking und 2012 in London und viermalige Weltmeisterin. Und in dieser Post-Corona-Saison rennt sie so schnell wie nie, mit 10,63 Sekunden führt sie die Weltjahresbestenliste an.
Lauf fünf, Bahn drei. Da steht eine 20 Jahre alte Medizinstudentin aus Malta: Carla Scicluna. Ihre Bestzeit lautet 12,05 Sekunden. Sie hat schon einen Lauf in den Beinen. Am Freitagmorgen qualifizierte sie sich über die Vorläufe vor den Vorläufen dafür, in Runde eins des olympischen 100-Meter-Entscheids der Frauen neben dem Superstar losrennen zu dürfen.
Bromell Favorit bei den Männern
Jetzt, kurz vor der Mittagspause am ersten Leichtathletik-Tag im leeren Olympiastadion von Tokio, geht der Wettbewerb so richtig los. Wer ins Halbfinale will, muss zunächst die erste Runde überstehen: Die jeweils besten Drei aus sieben Läufen kommen weiter, dazu die drei Zeitschnellsten. Heute folgt der erste große Showdown der olympischen Leichtathletik in Japan: Die Halbfinals (12.15 Uhr deutscher Zeit) und das Finale (14.50 Uhr/beide ARD) über 100 Meter der Frauen.
Der schnellste Mann des Planeten wird um einen Tag zeitversetzt ermittelt. Im Finale, das wie immer einer der absoluten Höhepunkte der Olympischen Spiele sein wird, wird der Sieger zum ersten Mal seit 2004 nicht Usain Bolt heißen. Der jamaikanische Weltrekordhalter (9,58 Sekunden) ging nach der WM 2017 in London in Rente. Die Position des Sprint-Königs ist damit vakant. An diesem Sonntag (14.50 Uhr/ZDF) wird sie zum Abschluss des ersten Leichtathletik-Wochenendes von Tokio vergeben.
Erster Anwärter auf die Bolt-Nachfolge ist der Amerikaner Trayvon Bromell. Im Juni ist der 26-Jährige in Florida in 9,77 Sekunden die schnellste Zeit des Jahres gerannt, nur sechs Männer weltweit waren jemals schneller als er. Bei den US Olympic Trials, der großen Hürde der amerikanischen Sportler, die bei diesem Qualifikations-Event auf den Punkt ihre Leistungen abrufen müssen, um eine Olympia-Fahrkarte zu erhalten, setzte er sich in 9,80 Sekunden gegen Ronnie Baker (9,85) und Fred Kerley (9,86) durch – womit in Tokio alle drei Medaillenanwärter sind.
Die Bühne der Olympischen Spiele von Rio verließ Bromell vor fünf Jahren noch im Rollstuhl. Nach Platz acht über 100 Meter riss ihm in der Sprintstaffel die Achillessehne. Sein Weg zurück war schwer. „2018 hatte ich keinen Grund mehr, überhaupt noch am Leben zu bleiben“, zitiert ihn der Leichtathletik-Weltverband World Athletics: „Ich habe mich gefühlt, als sei ich nur noch ein Schatten auf der Welt.“ Drei Jahre später hat er es zurück ins Licht geschafft. 15 seiner letzten 16 Rennen über 100 Meter gewann er, zehnmal stoppte die Uhr nach weniger als zehn Sekunden.
Burghardt beste Deutsche
Als Bromells größter Herausforderer neben seinen US-Kollegen gilt Akani Simbine (Südafrika), in 9,84 Sekunden Zweitschnellster des Jahres. Und mitmischen können auch: der Kanadier Andre de Grasse (26), der Jamaikaner Yohan Blake (31) und der Japaner Ryota Yamagata (29). Deutsche Sprinter sind nicht am Start.
Auf Bahn drei und vier im Olympiastadion spielen sich am Freitagmittag ganz unterschiedliche Szenarien ab. Shelly-Ann Fraser-Pryce lächelt fröhlich in die Kameras, winkt ein bisschen und legt einen lockeren Aufgalopp hin. 10,84 Sekunden kommen dabei heraus. Die Ivorerin Marie-Josee Ta Lou (10,78/32) und Fraser-Pryces Landsfrau Elaine Thompson-Herah (10,82/29), die Olympiasiegerin von 2016, sind einen Tick schneller, die Britin Dina Asher-Smith (25) als weitere Athletin aus dem Kreis der Topfavoritinnen lässt es in 11,06 Sekunden entspannter angehen.
Die Medizinstudentin Carla Scicluna bestreitet derweil das Rennen ihres Lebens. Sie guckt konzentriert, erreicht ihr Ziel, endlich mal unter zwölf Sekunden zu bleiben, aber nicht. Nach 12,11 Sekunden am Morgen scheidet sie nun nach 12,16 Sekunden aus. Besser lief es für die beiden deutschen Starterinnen: Alexandra Burghardt (Burghausen) gewann ihren Lauf in 11,08 Sekunden, Tatjana Pinto (Paderborn) kam in 11,16 als Dritte ihres Laufs ebenfalls ins Halbfinale.
Gewinnt Shelly-Ann Fraser-Pryce heute, wäre sie die erste Frau, die dreimal Gold in einem olympischen Einzelwettbewerb geholt hat. Kugelstoßerin Valerie Adams (Neuseeland), Diskuswerferin Sandra Perkovic (Kroatien), Speerwerferin Barbora Spotakowa (Tschechien) und Hammerwerferin Anita Wlodarczyk (Polen) kann das in Tokio auch gelingen. Doch ihre Finals finden erst nach dem 100-Meter-Spektakel statt. Fraser-Pryce wäre die erste Athletin mit Dreifach-Gold. Die Schnellste. Druck macht sie sich deshalb aber nicht. „Es spielt keine Rolle, was passiert“, sagte sie im Vorfeld: „Meine größte Leistung wird immer mein Sohn sein.“