Sandhausen. Nach zahlreichen Doping-Fällen droht Gewichthebern das Olympia-Aus. Ein ehemaliger Olympionike schildert seine Erlebnisse.
Olympische Erfahrungen hat Jürgen Spieß in seiner langen Sportlerlaufbahn einige gesammelt. Dreimal, in Peking, London und Rio, war er beim großen Theater um die fünf Ringe dabei. Seine Hoffnungen auf eine vierte Olympia-Teilnahme musste Spieß vor drei Monaten allerdings begraben: Bei der EM der Gewichtheber in Moskau schaffte er keinen gültigen Versuch im Stoßen, blieb damit ohne Zweikampfwert – und beendete zwei Tage später seine internationale Karriere.
Jetzt sitzt der gebürtige Heidelberger in seinem Haus im Ortskern von Sandhausen und spricht über die stark dopingbelastete Vergangenheit und über die Zukunft seiner Branche – auf die das Internationale Olympische Komitee (IOC) bei den Spielen in Tokio ein besonders scharfes Auge werfen wird. Schließlich droht den Gewichthebern für die nächste Olympia-Ausgabe in drei Jahren der Rauswurf – entsprechend lässt Spieß seinen Sorgen im Gespräch mit dieser Zeitung freien Lauf. „Ich denke“, sinniert er, „es ist jedem bewusst, um was es geht. Unser Weltverband muss einfach aufpassen, dass es in Tokio keine positiven Fälle gibt. Das ist das Entscheidende.“
Viele ungeklärte Dopingfälle
Am Samstag erschütterte ein neuer Fall die Branche: Der Brasilianer Fernando Reis (31) wurde positiv getestet und darf nicht nach Tokio reisen. Erst Ende Juni deckte die Internationale Dopingkontrollagentur (ITA) in einem Untersuchungsbericht auf, dass über ein Jahrzehnt hinweg etwa 146 Dopingfälle im Gewichtheben ungeklärt geblieben seien. Zuvor hatte der Internationale Gewichtheberverband (IWF) die ITA beauftragt, Dopingtests aus den Jahren zwischen 2009 und 2019 auszuwerten.
Wegen des tief verwurzelten Dopingproblems der Sportart, der starren Strukturen und des mäßigen Reformeifers innerhalb der Führungsriege des IWF drohte das IOC den Gewichthebern wiederholt mit dem Ausschluss aus dem olympischen Programm für die Spiele 2024 in Paris. Mit Streichungen bestraft wird die Hantel-Abteilung schon jetzt: Durften 2016 in Rio noch 260 Gewichtheber in 15 Gewichtsklassen starten, sind bei den Spielen in Tokio nun nur noch 196 Sportler und Sportlerinnen in 14 Klassen zugelassen. Und für die Olympia-Ausgabe in drei Jahren in der französischen Metropole sind maximal 120 Plätze in zehn Klassen vorgesehen. Sofern die Gewichtheber von den Herren der Ringe dann nicht schon längst die Rote Karte gezeigt bekommen haben.
Thailand, Malaysia, Ägypten und Rumänien gesperrt
Allein bei der Nachanalyse der Olympischen Spiele von Peking und London traten im Gewichtheben 61 positive Dopingbefunde zu Tage. So wurde zum Beispiel aus Spieß‘ ursprünglichem neunten Platz in Peking mittlerweile Rang sechs. Für die olympischen Wettkämpfe in Tokio sind Thailand, Malaysia, Ägypten und Rumänien wegen zu vieler Disqualifikationen gesperrt. Andere Nationen, darunter Russland, Aserbaidschan oder Kasachstan, dürfen wegen der zahlreichen Dopingfälle in ihren Ländern nur eine Frau und einen Mann (statt der möglichen vier Frauen und vier Männer) an den Start bringen.
„Ich kann mir vorstellen, dass wir, sehr ausgedünnt durch die ganzen Sanktionen, schon mal ein Stück weit sauberer sind – weil wir einfach mehr Sportler aus sauberen Nationen am Start haben“, glaubt Jürgen Spieß, der den insgesamt vier deutschen Frauen und Männern jeweils „eine gute einstellige Platzierung“ zutraut – mit den besten Aussichten für Nico Müller und Lisa Marie Schweizer. Zugleich betont Spieß vor den Wettkämpfen in Tokio, bei denen die Bantamgewichtlerinnen am 24. Juli als Erste auf die Bühne treten, aber auch: „Natürlich sind da noch genug Leute dabei, für die ich niemals die Hand ins Feuer legen würde. Weil sie einfach über Jahre oder Jahrzehnte gezeigt haben, dass sie es ohne Doping einfach nicht hinkriegen.“
Schon früh auf Doper getroffen
Der fünfjährige Ben, der ältere seiner beiden Jungs, legt in seiner Spielecke im Wohnzimmer gerade ein Holzpuzzle, mit Zahlen auf der einen und Buchstaben auf der anderen Seite. Ab und braucht er ein bisschen Unterstützung, kommt zum Esstisch gelaufen und fragt seinen Vater um Rat. „Zahlen kann er schon, bei den Buchstaben klemmt’s noch ein bisschen“, lächelt Papa Spieß – dem früher auf der Heberbühne das Lachen dagegen immer wieder vergangen war. Im Grunde von Anfang an.
So erzählt der zehnmalige Deutsche Meister, wie er mit 16 zum ersten Mal zu einer Jugend-EM fuhr, dort Vierter wurde – und dabei unter anderem dem Sieger Chadschimurat Akkajew aus Russland begegnete. Akkajew war dann über viele Jahre einer seiner Konkurrenten, holte 2008 in Peking Olympia-Bronze im Mittelschwergewicht. Diese Medaille kassierte das IOC acht Jahre später jedoch wieder ein – nachdem Akkajew, der bereits 2005 positiv getestet und für zwei Jahren gesperrt worden war, bei den Nachproben der Peking-Spiele die Einnahme des Anabolikums Dehydrochlormethyltestosteron, vertrieben unter dem Handelsnamen Oral-Turinabol, nachgewiesen worden war.
Schon früh ohne echte Chance
„Schon als Jugendlicher wusste ich, dass da Sportler aus Nationen vor mir sind, gegen die ich eigentlich keine Chance habe“, erinnert sich Spieß – und seufzt rückblickend: „Das ist natürlich kein Thema, bei dem man jauchzend durch die Welt marschiert. Aber so traurig das klingt: Ich bin da hineingewachsen, ich kannte es von Anfang an nicht anders.“
Weil es den Gewichthebern nun aber endgültig an den olympischen Kragen gehen könnte, engagiert sich der Europameister von 2009 im Zweikampf und im Stoßen seit vergangenem September in der frisch gegründeten Athletenkommission des IWF. „Wir haben da von Anfang an nichts anderes zu tun gehabt, als gegen die Alteingesessenen anzukämpfen und uns irgendwie Gehör zu verschaffen. Aber wenn man da ein Prozent in die richtige Richtung treibt, kann es am Ende das entscheidende eine Prozent sein, das die Sportart rettet“, hofft Spieß.
Trockengelegt ist der Funktionärssumpf nicht
Tamas Ajan, der umstrittene Langzeit-Präsident des IWF, war im April 2020 angesichts schwerer Vorwürfe der Dopingvertuschung, Korruption und Vetternwirtschaft zurückgetreten. Auch Vizepräsident Nicolae Vlad und Exekutivmitglied Hasan Akkus haben den Rückzug von ihren Ämtern mittlerweile bekanntgegeben. Doch trockengelegt ist der Funktionärssumpf im Weltverband damit noch immer nicht, weiß Spieß, der seine Ausbildung bei der Landespolizei Baden-Württemberg im September 2019 abgeschlossen hat und nun auf dem Revier Heidelberg-Süd im Ermittlungsdienst arbeitet.
Nach Einschätzung des 37-Jährigen stellt die angestrebte neue Satzung für den IWF die entscheidende Grundlage dar, um im Herbst wie geplant Neuwahlen durchführen zu können. Sollte es dann auch zu einer ordentlichen Wahl der Athletenkommission kommen, würde Spieß sich aufstellen lassen. „Auch im Interesse unseres Verbandes“, fügt er hinzu. Denn so wüsste Florian Sperl, der neue Chef des Bundesverbandes Deutscher Gewichtheber, der als IWF-Vizepräsident kandidieren will, beim erhofften Neustart der Branche einen prominenten Mitstreiter in seinen Reihen.
Noch aber schwebt das Damoklesschwert des Olympiaausschlusses für 2024 über den Gewichthebern. „Es muss klar sein, dass im neuen Vorstand keine Alteingesessenen mit schmutzigen Fingern mehr mit drin sind. Sollte es aber so sein, dass sich Teile dieser Verbrecher, die seit Jahren im Amt sind und das Gewichtheben überhaupt erst dahin gebracht haben, wo es jetzt ist, wider Erwarten wieder durchsetzen, sehe ich für unsere Sportart schwarz“, prophezeit Jürgen Spieß. Denn: „Dann wird sich das IOC das nicht mehr anschauen und einfach einen Cut machen.“