Berlin. Kanu-Weltmeister Ronald Rauhe spricht über die Besonderheiten des Vierer-Kajaks. Das Wichtigste daran bleibt auch am Ufer verdeckt.
Das größte Geheimnis wird gut gehütet. Unter Wasser sieht die Steuerflosse ohnehin niemand. Aber die meiste Zeit ist das große Kajak an Land, und dort wird das sensible Detail verdeckt. „Wir haben ein Jahr getüftelt, um herauszufinden, was die beste Flosse für uns ist“, erzählt Ronald Rauhe. Unzählige Kilometer auf etlichen Gewässern spulte der deutsche Kanu-Vierer ab, ließ viele Messungen durchführen, justierte immer wieder neu. Das Ergebnis der Arbeit darf nun bloß niemand kopieren und sich damit selbst Vorteile verschaffen. Daher die Vorsicht.
Sie soll sich lohnen in Tokio. Bei den Olympischen Spielen (ab 23. Juli) geht der Vierer nicht nur als Serien-Weltmeister über 500 Meter an den Start, sondern auch mit ausgezeichnetem Material. Entwickelt von der FES in Berlin, dem Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten. Intensivstes Feintuning betreiben die Athleten um Routinier Rauhe gemeinsam mit den Wissenschaftlern, um das bestmögliche Produkt zu erhalten. Was gerade bei der Steuerflosse sehr filigran ist. Sie soll möglichst wenig Widerstand im Wasser bieten und kaum Verwirbelungen erzeugen, dem Boot aber dennoch genügend Stabilität geben.
Entwicklung eines Vierer-Kajaks beansprucht Zeit
Die Liebe zum Detail beginnt schon bei der Form des Rumpfes. Gut neun Meter lang ist das für die Spiele pink lackierte Boot, das mindestens 30 Kilogramm schwer sein muss. Und bei der Arbeit von vier Sportlern entsteht bei jedem Schlag eine Biegung des Rumpfes in der Mitte. Die muss möglichst gering bleiben. Dazu werden verschiedene Karbonschichten über Wabenkonstruktionen gelegt, so dass eine sehr hohe Festigkeit erreicht wird.
Die Entwicklung eines Vierer-Kajaks beansprucht Zeit, teuer ist sie auch, fast sechsstellig sind die Kosten für ein Boot. Daher gibt es pro Olympiazyklus nur ein neues Modell. Eine Herausforderung ist es, alle Leute hineinzubekommen.
„Jeder ist ja unterschiedlich breit“, sagt der Potsdamer Rauhe. Nachdem das schmale Boot am Computer konstruiert und dann gebaut wurde, wird es oben „aufgesägt und gespreizt“, bis auch der Breiteste hineinpasst. Dann verschließen es die Konstrukteure wieder, die schon bei der Simulation am Computer das Gewicht der vier Athleten in den Produktionsprozess einfließen lassen. Diese Parameter sind wichtig, um das Strömungsverhalten zu optimieren. Das würde sich verschlechtern, wenn die Sportler sich viel bewegen im Boot.
Essener Max Rendschmidt lenkt das Boot
„Bei uns ist es aber so, dass wir sehr gleichförmig fahren. Wir sind von der Technik her alle sehr sauber“, erzählt der 39-Jährige, der an zweiter Position hinter Schlagmann Max Rendschmidt sitzt. Der Essener ist als Vordermann im Boot für das Lenken zuständig, betätigt die Steuerflosse über einen kleinen Hebel zwischen den Beinen, der über Bowdenzüge mit dem Heck verbunden ist. Die Füße von Rendschmidt und den Kollegen, zu denen auch Tom Liebscher (Dresden) und Max Lemke (Mannheim) gehören, sind auf einem Stemmbrett in Schlaufen fixiert. Stemmbrett und Sitz sind individuell geneigt und verschieden in der Höhe.
Wer so optimiert in See sticht, erzeugt eine ordentliche Dusche. Diejenigen, die hinten sitzen, sehen auf den ersten 50 Metern nichts, weil ihnen viel Wasser ins Gesicht spritzt. Brille und Spritzdecke gehören deshalb ebenso zur unverzichtbaren Ausrüstung. Denn Wasser im Boot verlangsamt die Fahrt. „Da haben wir einen Schritt vollzogen, den noch nicht alle gemacht haben“, erklärt Rauhe. Bei einer normalen Decke, die per Gummizug am Bauch anliegt, läuft das Wasser irgendwann hindurch. Der deutsche Vierer trägt deshalb Anzüge unter den Trikots, an die eine Decke genäht ist und die daher undurchlässig sind.
Olympiasieg 2004 in Athen
- Ronald Rauhe, geboren am 3. Oktober 1981 in Berlin, startet seit 2002 für den KC Potsdam. Der Kanute ist einer der erfolgreichsten deutschen Sportler. Er gewann bei Weltmeisterschaften 15 Goldmedaillen und wurde 2004 in Athen im Zweierkajak mit Tim Wieskötter Olympiasieger über 500 Meter. In Tokio wird Rauhe zum letzten Mal an Olympischen Spielen teilnehmen.
- Seit 2008 lebt Ronald Rauhe zusammen mit der Kanutin Fanny Fischer in Falkensee (Brandenburg). Er heiratete sie 2015 und hat mit ihr zwei Söhne.
Paddel genau zugeschnitten
Unkaputtbar müssen die Paddel der Kanuten sein, ohne die sie dem Boot keinen Vortrieb geben können. Auf ihr Paddel passen die Athleten am meisten auf. Jedoch nicht, weil andere sich da keine Details abkupfern dürfen, sondern weil sie so extrem auf den einzelnen Athleten zugeschnitten sind. Länge des Paddels, Härte des Schafts, der Winkel der Blätter zueinander – es gibt so viele verschiedene Parameter. „Du kannst nicht einfach ein Paddel eines anderen nehmen und losfahren, das passt nicht“, sagt der 16-fache Weltmeister, der im Wasser spürt, ob ein Paddel einen Grad Unterschied im Winkel der Blätter hat. Weil selbst das beste Material brechen kann, haben Rauhe und Co. immer ein Ersatzpaddel dabei. Aus reiner Vorsicht.