London. 2014 kehrte Ashleigh Barty dem Tennis-Zirkus den Rücken und spielte lieber Cricket. Heute ist die 25-Jährige Wimbledon-Siegerin.
Der Abend war schon über London hereingebrochen, als Ashleigh Barty (25) noch einmal an die „verrückten Wochen“ denken musste. An die Wochen zwischen Hoffen und Bangen, die ihrer Verletzungaufgabe bei den French Open gefolgt waren. Am 3. Juni hatte sie im Stadion Roland Garros ihr Zweitrundenmatch gegen die Polin Magda Linette wegen einer schmerzhaften Hüftverletzung aufgeben müssen, der Traum vom Wimbledon-Triumph schien ausgeträumt.
Doch 37 Tage nach dem „absoluten Tiefpunkt“ unterm Eiffelturm stand sie stolz und zu Tränen gerührt als Titelheldin auf dem Heiligen Rasen, 6:3, 6:7 (4:7), 6:3-Siegerin gegen die Tschechin Karolina Pliskova: „Diese Geschichte ist so unglaublich. Ich kann es einfach nicht fassen“, sagte Barty, die Weltranglisten-Erste, die nun auch erstmals die Beste beim wichtigsten aller Tennisturniere war. Genau 50 Jahre nach dem Sieg von Evonne Goolagong Cawley stand wieder eine australische Spielerin mit indigenen Wurzeln auf dem Königsthron im All England Club, eine Spielerin, über die Altmeisterin Martina Navratilova sagte: „Es gibt keinen im Tennis, der ihr diesen Sieg nicht gönnt.“
Bartys außergewöhnlicher Karriereweg - inklusive Auszeit und Cricket
So unkonventionell und beschwerlich der Countdown zu diesem größten Erfolg war, die 37 Tage zwischen Paris-Rückzug und Wimbledon-Coup, so außergewöhnlich ist auch Bartys gesamter Karriereweg verlaufen. Vor zehn Jahren gewann die Australierin im zarten Alter von 15 Jahren bereits das Juniorinnen-Turnier in Wimbledon, danach stieg sie schnell auf die Erwachsenen-Tour ein – und verbuchte besonders im Doppel mit ihrer Partnerin Casey Dellaqua eine sensationelle Bilanz mit dem Vorstoß in drei Grand Slam-Finals (Australian Open, Wimbledon, US Open). Im Spätsommer 2014 allerdings entschloß sich Barty zu einem ungewöhnlichen Schritt und verließ den Wanderzirkus auf unbestimmte Zeit: „Der Stress war zu groß für mich geworden. Ich musste einfach mental wieder neue Kräfte sammeln, ich war ein Opfer meines eigenen Erfolgs geworden.“
Anderthalb Jahre dauerte die Auszeit für Barty, die vorübergehend sogar in die australische Cricketliga wechselte und sich dann als Tennis-Rückkehrerin rasch zu einer respektierten Größe im Einzel und Doppel entwickelte. 2019 gewann sie 23-jährig ihren ersten Grand Slam-Titel in Paris, mit ihrem typisch flüssigen, variablen, völlig natürlichen Spielstil. Den French Open-Titel verteidigte sie allerdings nicht, im Corona-Jahr 2020 blieb sie nach den ersten Turnieren im heimatlichen Australien einfach zuhause und stellte ihren Reisebetrieb ein. „Es war zu schwierig und kompliziert, durch die Welt zu jetten“, sagte Barty, „ich fühlte mich wohler bei meiner Familie und den Freunden daheim.“ Erst Anfang dieser Saison gab sie ihr Comeback und spielte sie sich schnell wieder auf Weltklasse-Niveau zurück. Sie gewann wichtige Turniere wie in Miami und in Stuttgart und verkündete früh, sie werde dieses Jahr nach Wimbledon fahren, „um zu gewinnen und mir meinen größten Traum zu erfüllen.“
"Sie hat in Wimbledon wie eine wahre Nummer eins gespielt"
Oft wurde Bartys Status als Branchenführerin in letzter Zeit angezweifelt, auch wegen ihrer langen Pause in der vorigen Saison. „Dieses Gerede war Unsinn. Sie hat in Wimbledon wie eine wahre Nummer eins gespielt und die Antwort gegeben“, sagte Tennislegende Billie Jean King, „sie ist die Spielerin, die das Tennis der Zukunft mitbestimmt.“ Aber auch die Zahlen aus der Vergangenheit waren schon beeindruckend genug, denn seit Spielbeginn in der Saison 2017 war Barty nun mit zwölf Tourtiteln und einer Siegquote von 76 Prozent in ihren Matches die erfolgreichste Akteurin.
Nichts in den letzten zehn Jahren - seit dem Erfolg im Schatten des Centre Court als aufstrebende Juniorin – konnte allerdings an die glücklichen Stunden an diesem 10. Juli 2021 heranreichen, an das Rendezvous mit der Geschichte, an die Kür zur neuen Rasen-Queen in London SW 19. „Ich hatte nie so starke Gefühle auf einem Tennisplatz wie heute“, sagte Barty, „es war eine überwältigende, unbeschreibliche Erfahrung.“ Und doch verlor die 25-jährige an ihrem stolzesten Tag nicht ganz die große Perspektive: „Ein guter Mensch zu sein, hat für mich jeden einzelnen Tag höchste Priorität.“