Baku/Kopenhagen.. Dänemark steht im EM-Halbfinale - und ist dort großer Außenseiter. Ist der Erfolg der Dänen wirklich so überraschend?
Das nächste Kapitel im dänischen EM-Epos begann mit einem Foto. Ein elfjähriger Junge hatte es auf seinem elternüberwachten Instagram-Konto gepostet, in dem er als „Model und Schauspieler“ definiert wird. Die Sensation war jedoch der Urlauber, der neben dem lachenden Knirps zu sehen war, denn es handelte sich um Christian Eriksen – und der Schnappschuss war das erste Bild von dem Fußballstar, seit er nach seinem Zusammenbruch im ersten Spiel gegen Finnland eine Lebensbotschaft aus dem Krankenhaus gesendet hatte.
Vorsehung kurz vor dem Viertelfinale? Irgendwie wirkt ja derzeit alles so bei den Dänen. Bald standen sie nach einem 2:1 (2:0) gegen Tschechien im Halbfinale, der größte Fußballerfolg des 5,8-Millionen-Einwohnerlandes seit dem Überraschungstitel 1992. „Magisch“, befand Trainer Kasper Hjulmand und erwies auch dem verhinderten Eriksen die Reverenz: „Wir tragen Christian in unseren Herzen mit nach Wembley.“
Zuvor hatte es ein Match gegeben, „das nicht schön war“, wie Hjulmand einräumte. Die Müdigkeit in der schwülen Hitze Bakus war den Spielern auch aus tausenden Kilometern Entfernung am Fernseher in Westeuropa anzusehen. Schon bei den Nationalhymnen triefte der Schweiß, die Trikots waren schnell durchnässt, und als zwei Tschechen dann nach Zusammenprallen auch noch mit Kopfverband spielten – Kapitän Tomas Soucek weiter blutend –, hatte das Geschehen endgültig etwas von einer Abnutzungsschlacht. Für Dänemark ging es darum durchzuhalten. Und das ist ja mittlerweile eine Kernkompetenz des Teams.
Dänemark hat gute Erfahrungen an England
Es handelt sich um eine Mannschaft, die sich nach dem Drama um Eriksen erst mal aufraffen musste, überhaupt wieder zu spielen. Die dann trotz eines furiosen Auftritts gegen Belgien mit null Punkten aus zwei Spielen dastand. Drei Siege und 10:2 Tore später gibt sie nun den Überraschungsgast beim Final Four in London mit den etablierten Großmächten Italien, Spanien und England. Gegen die Gastgeber geht es im Halbfinale. „In Wembley gegen England“, jubilierte Dortmunds Thomas Delaney, am Samstag der Schütze des 1:0: „Darauf freue ich mich wie verrückt.“
Dänemarks Chancen stehen dabei gar nicht so schlecht. Beim letzten Wembley-Besuch vor neun Monaten wurde in der Nations League mit 1:0 gewonnen. Außerdem bringt das Land mehr historische EM-Erfahrung ein, es bestreitet sein drittes Halbfinale (1984, 1992) – England ebenso (1968, 1996), kam aber noch nie weiter. Dennoch und zumal gegen die ausgeweitete Heimkulisse und mit dem schlauchenden Baku-Trip in den Knochen gilt Dänemark natürlich als Außenseiter. Auch kein Problem: das ist ja die Paraderolle, in der man es 1992 zum Titel brachte.
Unerwartet kommt das Halbfinale allerdings nur für Außenstehende. „Das erste, was ich den Jungs in der Vorbereitung gezeigt habe, war ein Foto von uns in Wembley aus dem letzten Jahr“, sagt Hjumland: „Ich sagte, dass wir zurückkommen werden.“
Der 49-Jährige, der auch mal Mainz 05 trainierte, ist nach dem Erikson-Drama als einfühlsamer Freund beschrieben worden. Seine Menschlichkeit habe dem Team geholfen, das Geschehen zu verarbeiten. Auch habe er so eine feste Brücke in die Herzen der Nation gebaut. Doch Hjumland ist in erster Linie ein ambitionierter Coach, der fußballerisch die Angriffsideale des verstorbenen Johan Cruyff vertritt und seit der Amtsübernahme im vorigen Sommer ungeniert vom „Traum“ sprach, „etwas zu gewinnen“. Dabei hob er besonders auf den Willen der Spieler ab, „zu zeigen, wer sie sind, wer wir sind.“ Dieses Team fühlte sich offenbar schon lange auf Mission. Den Erfolg auf die freigesetzten Emotionen nach dem Eriksen-Schock zu reduzieren, wäre da zu einseitig.
Dänemarks Trainer Kasper Hjulmand erweist sich als guter Stratege
In Baku erwies sich Hjulmand zudem als guter Stratege. Gegen die exzellent gecoachten Tschechen machte er zunächst die Flügel als Schwäche aus. Auf der rechten Seite wurde früh der – allerdings unberechtigte – Eckball provoziert, der zu Delaneys 1:0 führte. Von der linken schickte Joakim Maehle einen hinreißenden Außenristpass in die Mitte, den Kasper Dolberg zum 2:0 verwandelte. Und als das Spiel später „überhaupt nicht mehr so lief, wie wir es geplant hatten“ (Delaney), fand Hjulmand zumindest die richtigen Antworten. Die tschechischen Umstellungen in der Halbzeit, die zu einer Drangphase und dem Anschluss durch Patrik Schicks fünftes Turniertor führten, konterte er mit Anpassungen wie der Hereinnahme des mobilen Leipziger Yussuf Poulsen. Mit jeder Auswechslung bekam Dänemark das Geschehen wieder besser unter Kontrolle.
Wo die Dänen bisher auch eine leichte Auslosung begünstigte, muss beim Auswärtsspiel in England wohl alles passen. Fürchten werden sie nichts. „Wir hatten ein Ziel vor dem Turnier, und das war, nach Wembley zurückzukehren“, erklärte Kapitän Simon Kjaer. „Aber ich würde lügen, wenn ich sagte, dass uns das schon reicht.“