München. Die Schweiz, Tschechien, Dänemark und die Ukraine sind die Überraschungsteams dieser Europameisterschaft.

Es ist guter Brauch bei jeder EM-Partie, dass der Stadionzuschauer vor Anpfiff ein Potpourri aus 60 Jahren Turnier-Geschichte geliefert bekommt. Über die Videowände laufen dann im Schnelldurchgang die prägenden Momente. Irgendwann flimmern auch freudetrunkene Griechen auf, die 2004 das letzte Lehrstück vom tapferen Außenseiter aufführten, der am Ende die EM-Trophäe stemmte. Wer auf eine solche Episode in diesem Jahr hofft, findet unter den Viertelfinalisten immerhin noch vier Teilnehmer vor, die die griechische Spur aufnehmen könnten.

Die Aussicht auf den Legendenstatus motiviert

Die Schweiz, Tschechien und Dänemark sowie die Ukraine sind die Überraschungsteams dieser EM. Und was geht da noch, wenn die Schweiz am Freitag gegen Spanien in St. Petersburg antritt (18 Uhr/ZDF, dann Dänemark und Tschechien sich in Baku (Samstag 18 Uhr/ARD) messen, ehe die Ukraine gegen England in Rom (Samstag, 21 Uhr/ARD) spielt? Und was eint dieses Quartett, von denen einer ja auf jeden Fall das Halbfinal-Ticket löst?

Dänemarks Trainer Kasper Hjulmand erkennt in Tschechien fast einen Bruder im Geiste. „Sie spielen mit großer Intensität, sind sehr gut strukturiert und physisch sehr stark.“ Wobei sich der Antrieb aus unterschiedlichen Quellen speist. Die Dänen sind nach dem tragischen Fall Christian Eriksen zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengeschweißt, bei den Tschechien ist es die besondere Aussicht, einen Legendenstatus wie Pavel Nedved zu erlangen.

Märchengeschichte eines Underdogs

Vielleicht waren die Umstände nie so günstig wie diesmal, dass es zu einem Coup wie 2004 in Portugal kommt, als der deutsche Trainer Otto Rehhagel für Griechenland die letzte Märchengeschichte eines Underdogs orchestrierte. Die Favoriten ächzen unter der Belastung; am Ende einer von Corona geprägten Saison 2020/2021, in der vor allem die Topspieler aus den Topnationen einer ungeheuren Belastung ausgesetzt waren. Irgendwann sind die Kraftreserven dann aufgebraucht.

Mentalität der Aufmüpfigen

Niemand hat das besser illustriert als Frankreichs Mittelfeldstar N‘golo Kante. Das Herzstück vom Champions-League-Sieger FC Chelsea gab bei dieser EM nur die Karikatur von einem Kraftprotz ab. Dazu kam der Arroganz-Anfall eines Paul Pogba, der mit seinem übertriebenen Tänzchen im Achtelfinal-Thriller von Bukarest die Schweizer zu einem Kraftakt anstachelte. Augenfällig ist die besondere Mentalität der Aufmüpfigen, die Elfmeterheld Yann Sommer so beschrieb: „Egal, wie das Spiel läuft, egal, was passiert und welche Phasen wir im Spiel erleben – wir gehen bis zum Schluss!“ Mit viel Herz und großer Leidenschaft.

Die Eidgenossen wollen der Welt zeigen, dass niemand an der Identifikation der Spieler unterschiedlicher Herkunft mit ihrer „Nati“ zweifeln muss. „Jeder Schweizer kann auf diese Mannschaft stolz sein“, sagte der zum Viertelfinale gesperrte Granit Xhaka, der von einem Halbfinale in seinem „Wohnzimmer London“ träumt. Seit fünf Jahren kickt der Kapitän für den FC Arsenal. Auslandserfahrung ist ein unverzichtbarer Faktor für den Aufstand der Außenseiter: Die Schweiz hat 22 Legionäre nominiert, bei Dänemark spielen auch nur noch vier Akteure in der Heimat, allein sieben aber in Englands Premier League.

Bei Tschechien sind die internationalen Meriten von Torwart Tomas Vaclik (FC Sevilla), Antreiber Tomas Soucek, Verteidiger Vladimir Coufal (beide West Ham United), Allrounder Pavel Kaderabek (TSG Hoffenheim) oder Torjäger Patrik Schick (Bayer Leverkusen) genauso unverzichtbar wie bei der Ukraine, wo Oleksandr Zinchenko (Manchester City), Andrej Jarmolenko (West Ham) oder Ruslan Malinowski (Atalanta Bergamo) gelernt haben, sich gegen Widerstände zu behaupten. Hier kommt auch Nationaltrainer Andrej Schewtschenko ins Spiel, der beim AC Mailand und FC Chelsea spielte. Viele Fußballfans blicken derzeit auch darüber hinweg, dass in seinem Team vor dem Hintergrund des kriegerischen Konflikts mit Russland vor dem Viertelfinale auch extrem viel Pathos und Patriotismus zur Show gestellt werden.