Herzogenaurach. In ungewohnter Rolle blieb Toni Kroos bei der EM blass, er steht in der Kritik. Nun ist offen, ob Neu-Trainer Flick auf ihn setzt.
Natürlich wird sich Toni Kroos gefreut haben. Der 31-Jährige ist ein Familienmensch. Schon oft hat er erzählt, dass er das viele Reise, das der Job als Fußballprofi mit sich bringt, so gar nicht mag. Am liebsten ist er zu Hause in Madrid bei seiner Frau und den drei Kindern.
Und doch hätte Kroos sicher gerne noch etwas gewartet mit dem Wiedersehen. Dass es schon diese Woche kam, liegt ja nur daran, dass die Europameisterschaft für die deutsche Nationalmannschaft deutlich früher als erhofft zu Ende war: schon nach dem Achtelfinale, nach dem 0:2 (0:0) gegen England.
Kroos hat danach noch ein kurzes TV-Interview gegeben, in seiner typisch stoischen Toni-Kroos-Art. An Mimik und Körpersprache ist in solchen Gesprächen selten zu erkennen, ob sich Kroos gerade über einen Weltmeisterschaftstitel freut oder über ein zu frühes Turnier-Aus ärgert.
Allein der EM-Titel fehlt Toni Kroos noch
In diesem Fall ärgerte er sich natürlich: „Sehr, sehr bitter“ sei das Ergebnis, insgesamt viermal in 87 Sekunden nutzt er dieses Wort: bitter. Der EM-Titel ist der einzig wesentliche, der Kroos noch fehl in seiner riesengroßen Sammlung, er war ein wesentlicher Antrieb, in der Nationalmannschaft weiterzumachen. Was also nun, da dieser Antrieb wegfällt?
Der Boulevard spekuliert bereits über einen Rücktritt, Kroos aber schweigt seit seinem Kurzinterview. Viele Nationalspieler haben über die sozialen Netzwerke kurze Texte des Bedauerns veröffentlicht. In Kroos‘ Instagram-Profil ist noch ein Foto des letzten Gruppenspiels gegen Ungarn zu sehen, dazu nur ein Wort: Achtelfinale. Und ein Haken.
Passt Kroos in den Fußball, den Flick sich vorstellt?
Schon einmal, nach dem WM-Debakel 2018, dachte Kroos an Rücktritt. Bundestrainer Joachim Löw aber stimmte ihn um. Bei Löw war Kroos stets gesetzt, war der Dirigent im Mittelfeld, er überstand jeden Umbruch und jede Rücknahme von Umbrüchen. Löw aber ist nun weg, nun kommt Hansi Flick. Auch zu dem hat Kroos einen guten Draht, nannte ihn kürzlich einen „feinen Menschen“. Aber passt Kroos auch in den Fußball, den Flick sich vorstellt?
„Jeder Trainer hat eine andere Handschrift“, sagt Oliver Bierhoff dazu. „Und man hat ja in seiner Zeit bei Bayern München gesehen, welcher Fußball Hansi Flick vorschwebt.“ Flick-Fußball ist kraftvoller, dynamischer Fußball. Er will den Gegner jagen, über das ganze Feld. Und wenn der Ball erobert ist, soll es nach Möglichkeit rasant nach vorne gehen. Kroos-Fußball ist das eher nicht. Kroos ist ein Mann des Ballbesitzes, der feine, präzise Pässe spielt, der das Spiel meist eher beruhigt als beschleunigt. Es hat ihn zum erfolgreichsten deutschen Fußballer gemacht. Kein anderer Deutscher hat viermal die Champions-League gewonnen, dazu kommend er WM-Titel und zahlreiche nationale Titel in Deutschland und Spanien.
Kroos stellt sich in den Dienst der Mannschaft
In Madrid wurde der Dirigent Kroos auch in der abgelaufenen Saison von Journalisten und Experten oft hymnisch gefeiert. In Deutschland ist das selten der Fall, und auch nach der EM entzündete sich viel öffentliche Kritik an Toni Kroos. Der hatte sich neu zu erfinden versucht. Statt eines Achters, der sich in den Halbräumen herumtreibt und vor allem für den Spielaufbau und die Verbindung zu Offensive zuständig ist, war er plötzlich Sechser, also defensiver Prellbock vor der Abwehr. Löws Formation mit Dreierkatte und Zwei-Mann-Mittelfeld verlangte das von ihm, und der feinfüßige Kroos stellte sich klaglos in den Dienst der Mannschaft. Er ackerte, er rannte, er grätschte, wie es nur wenige von ihm erwartet hätten. Aber er büßte einen Teil seiner Stärken dadurch ein, er war zu selten weit vorne am gegnerischen Strafraum zu finden.
Kroos wurde zum Systemopfer, und das könnte ihm nun wieder drohen: Flick hat seine Erfolge mit den Bayern mit einem Mittelfeldzentrum aus Joshua Kimmich und Leon Goretzka geholt, mit einem Kraftzentrum im Mittelfeld, das Spielstärke verbindet mit Dynamik und Wucht. Setzt er auch in der Nationalmannschaft um, wäre kein Platz mehr für Kroos. Der wird sich also genau überlegen, wie es weitergeht. Er wird das Gespräch mit Flick suchen und sich nach der für ihn vorgesehenen Rolle erkundigen. Und dann wird er entscheiden, ob er nochmal einen Anlauf auf den EM-Titel unternehmen will – bei der nächsten Ausgabe wäre er 34. Oder ob er künftig mehr Zeit für die Familie hat.