London. Trotz der Delta-Variante gönnt die englische Regierung sich vollere Stadien. Deutsche können zum EM-Achtelfinale nicht einreisen.

Auch eine Kathedrale ist manchmal seelenlos und trist. So verhält es sich mit dem Wembley-Stadion, der heiligen Stätte des englischen Fußballs, die am Dienstag Schauplatz des EM-Achtelfinals zwischen England und Deutschland sein wird. Wenn die Arena im Nordwesten Londons voll ist mit 90.000 Zuschauern, kann sie eine beeindruckende Wucht entfalten, doch bei verminderter Auslastung tritt das Gegenteil ein. Dann wird die Größe zum Problem. Zweifelhafte Berühmtheit haben in England die Spiele in der Qualifikation zur WM 2018 erlangt, in denen sich die Mannschaft vor überschaubar gefüllten Rängen zu mühsamen Siegen gegen Gegner wie die Slowakei oder Slowenien schleppte. Um sich in dem ärmlichen Ambiente die Langeweile zu vertreiben, ließen viele Zuschauer Papierflieger durch das Rund segeln.

Reihenweise Sorgen vor dem EM-Achtelfinale

So weit ist es bei der EM zwar noch nicht, doch weil Wembley wegen der Corona-Beschränkungen bei den Gruppenspielen Englands (1:0 gegen Kroatien und Tschechien, 0:0 gegen Schottland) und dem Achtelfinale zwischen Italien und Österreich (2:1 nach Verlängerung) nur zu einem Viertel gefüllt war, ist dem einen oder anderen Beobachter aufgefallen, dass die Atmosphäre nicht zu einem Turnier passt – sondern eher an Freundschaftsspiele vor der Saison erinnert. Sorgen macht auch der Rasen. Um die Spielfläche zu schonen vor den Halbfinals und dem Finale, durften (beziehungsweise: dürfen) die Achtelfinal-Teilnehmer am Tag vor dem Spiel nicht im Stadion trainieren, dem Vernehmen nach zum Unmut der deutschen Delegation.

Englische Regierung beugt sich dem Druck der Uefa

Bis zu 40.000 Menschen sollen beim Treffen zwischen England und Deutschland im Stadion sein. Für die Halbfinals und das Endspiel werden sogar mehr als 60.000 Zuschauer zugelassen. Ausschlaggebend dafür dürfte der Druck der Uefa auf die britische Regierung gewesen sein. Angeblich wurde damit gedroht, die entscheidenden Turnier-Spiele nach Budapest zu verlegen, dem einzigen EM-Standort, der ein volles Stadion erlaubt.

Fans aus Deutschland werden nicht einreisen

Die Erhöhung der Kapazität in London ist kritisch, weil die so genannte Delta-Variante des Corona-Virus die Fallzahlen im Vereinigten Königreich rasant steigen lässt. Die Zahl der täglichen Fälle hat sich innerhalb von sieben Tagen fast verdoppelt. Aus Deutschland einreisende Fans werden beim Achtelfinale nicht im Stadion sein. Die britische Regierung stuft Deutschland als Land mit mittlerem Risiko ein und schreibt mindestens fünf Tage Quarantäne vor. Bei Rückkehr nach Deutschland wären sogar 14 Tage Quarantäne Pflicht, wegen der Virus-Variante. Laut Uefa werden nur Karten an Deutsche mit Wohnsitz im Vereinigten Königreich verkauft. Schätzungen zufolge wird die deutsche Sektion in Wembley aus rund 2000 Menschen bestehen.

England experimentiert mit der Normalität

Gefühlt ist England schon recht weit auf dem Weg zur Normalität, trotz der aktuellen Entwicklung. Die Gastronomie hat seit einer Weile wieder geöffnet, der Anteil an Menschen, die mindestens eine Dosis der Corona-Impfung bekommen haben, liegt bei 66 Prozent (in Deutschland sind es 53 Prozent). Die EM ist eine von mehreren Sportveranstaltungen, die in diesem Sommer große Zuschauer-Mengen zulassen. Zehntausende Menschen werden ab diesem Montag zum Tennisturnier von Wimbledon pilgern. Beim Grand Prix von Silverstone im kommenden Monat soll die Kapazität mit 140.000 Zuschauern voll ausgelastet sein.

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Fachleuten warnen allerdings, dass es sich bei den Veranstaltungen um Experimente handele, um die Rückkehr zum Alltag voran zu treiben: “Das sind Forschungsprojekte. Das ist der einzige Grund, warum sie zugelassen werden”, sagte John Edmunds von der London School of Hygiene and Tropical Medicine dem “Guardian”: “Wir müssen das machen, wenn wir Sport- und Kulturveranstaltungen voll öffnen wollen. Aber ich bin nicht sicher, ob die Zuschauer wissen, dass ein Risiko dabei ist.”