Essen. Die EM in elf Ländern soll den Kontinent vereinen - doch es schimmern Probleme durch. Selten steckte in einem Sportereignis so viel Politik.

Am Freitag beginnt die Europameisterschaft. Eigentlich ein Fußball-Fest, debattiert wird an vielen Orten jedoch vor allem über politische Themen.

Beispiel England. Hier kniete die Nationalmannschaft beim Testspiel gegen Österreich (1:0) vor dem Anpfiff auf dem Rasen, protestierte so gegen Rassismus. Ein Teil der Fans buhte, ein Teil applaudierte. „In erster Linie sind wir alle sehr enttäuscht, dass das passiert ist“, meinte Nationaltrainer Gareth Southgate. Seine Mannschaft will ihren Protest beim Turnier nun fortsetzen.

Beispiel Ungarn. Hier knieten die Iren beim Test in Budapest (0:0), viele Anhänger pfiffen. „Das wirft kein gutes Licht auf Ungarn“, erklärte Irlands Trainer Stephen Kenny.

Beispiel Ukraine. Auf dem Trikot des Staates in Osteuropa ist die Landesgrenze eingezeichnet, einschließlich der von Russland annektierten Krim sowie der von Separatisten kontrollierten Region Donezk/Lugansk. Russland ärgert sich. Eine Sprecherin des Außenministeriums nannte die Trikots eine verzweifelte Geste.

Beispiel Aserbaidschan. Hier grätschen am Samstag Wales und die Schweiz um Punkte in der Gruppe A, sogar ein Viertelfinale wird in der Hauptstadt Baku ausgetragen. Obwohl Menschenrechtler die Lage des Landes, das von dem autoritären Regime mit Staatspräsident Ilham Alijew an der Spitze geführt wird, anprangern.

Selten steckte ein Großereignis so voller politischer Konflikte. Und dies hat Gründe.

Die Profis stehen zu ihrer Meinung

Denn dass sich etwa Aserbaidschan bei der Europameisterschaft inszenieren kann, liegt an einer aus der Not entstandenen Idee. 2012 fehlte ein Ausrichter für das eigentlich 2020 geplante Turnier, das mittlerweile aufgrund der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben wurde. Deswegen entwickelte der damalige Uefa-Präsident Michel Platini die erste europaweite EM. Elf Austragungsorte sind in diesem Sommer zusammengekommen.

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Auf der einen Seite kann der Wettbewerb dadurch als Symbol für ein vereintes Europa gelten. Andererseits schimmern Konflikte durch, die Menschen auf dem Kontinent austragen. Umstrittene Regime können zudem die Bühne für sich nutzen – wie eben Aserbaidschan, aber auch die Regierungen von Ungarn und Russland. Hinzukommen Fußballer, die längst nicht mehr davor zurückschrecken, offen ihre Meinung zu vertreten. Und eine Pandemie, die Normalität verhindert.

Ein großes Sportereignis könne nicht unpolitisch sein, meint Universitätsprofessor Jürgen Mittag, der an der Sporthochschule Köln arbeitet und Sportpolitik wissenschaftlich betrachtet. „Die Frage ist, inwieweit der Sport zum Spielball der unterschiedlichen Interessen wird. Es gibt zahlreiche Akteure, die ein Sportereignis für ihre Zwecke instrumentalisieren möchten.“

Wie Aserbaidschan. Seit Jahren investiert das Regime Geld, um Sportveranstaltungen ins Land zu holen und so das Image aufzupolieren. Europa ist ein wichtiger Abnehmer der Öl- und Gasreserven des Landes. Der Staatskonzern Socar, deren Vorsitzender auch als Chef des nationalen Fußballverbandes arbeitet, hat 2013 einen millionenschweren Sponsorenvertrag mit der Uefa abgeschlossen.

„Es ist offensichtlich, dass das Regime den Sport nur nutzt, um den eigenen Ruf zu verbessern und von den verheerenden Menschenrechtsverletzungen im Land abzulenken“, sagt Frank Schwabe (SPD), Mitglied des Bundestages, der Wahlen in Aserbaidschan beobachtet hat. „Ich erwarte von internationalen Sportorganisationen, insbesondere von der Uefa, ein viel höheres Maß an Sensibilität.“

Die Champions League verbindet

Allerdings prasselt auch eine Menge Kritik auf ein Land wie Aserbaidschan ein. „Der Sport kann verbinden. Aber er kann auch Gräben vertiefen“, erklärt Jürgen Mittag. Die Athleten könnten eine Debatte auslösen. „Wenn Proteste umfassende Reaktionen hervorrufen und mobilisieren, kann ein Sportereignis einem Staat auch schaden, der die Menschenrechte nicht achtet.“

Jürgen Mittag glaubt daher, dass der Fußball die europäische Identität in jedem Fall fördert. „Das zeigt zum Beispiel die Champions League. Nicht nur Fans kennen dadurch die Spieler von Vereinen wie Real Madrid besser als von vielen Bundesligisten.“ Deswegen: „Der Fußball kann dazu beitragen, dass Europa enger zusammenrückt.“