Essen. Mit dem EM-Kader setzt der scheidende Bundestrainer Joachim Löw ein deutliches Zeichen. Es zählen allein Form und Fitness.
Wolfgang Goldacker ließ nicht locker. Gerade hatte Bundestrainer Joachim Löw in vielen Worten erklärt, warum er noch kein konkretes Ziel ausgeben könne für die Europameiserschaft im Sommer, dass dies erst im Laufe der Vorbereitung passieren könne und dass man ja überhaupt von Spiel zu Spiel denken müsse bei einem solchen Turnier. Doch Goldacker setzte entschlossen nach: „Welchen Platz wollen Sie bei der EM erreichen?“, fragte der Bewohner eines Seniorenheims in Frankfurt/Oder. Und dann wurde der Bundestrainer doch noch etwas konkreter: „Wenn man als Deutschland in ein Turnier geht, ist immer das erste Ziel, ins Finale zu kommen.“ Da lächelte Goldacker sehr zufrieden.
Der Rentner war als einer von 6500 Menschen eingeladen zur virtuellen Kaderpräsentation der Nationalmannschaft. Der krisengeschüttelte Deutsche Fußball-Bund wollte Nähe zur Basis demonstrieren, und so durften auch Schulklassen und Fanklub-Mitglieder Fragen stellen.
Joachim Löw unterbricht den DFB-Umbruch
Und sie alle erlebten einen ambitionierten Bundestrainer – das zeigte neben Löws Worten der Kader, den er am Mittwochmittag präsentierte. Allein schon wegen zweier prominenter Namen: Die Weltmeister Mats Hummels (32) und Thomas Müller (31), vor zweieinhalb Jahren aussortiert, kehren zurück, der Umbruch wird zumindest unterbrochen.
„Die Ziele, die wir uns vorgenommen hatten, konnten wir in den letzten beiden Jahren auch wegen der Corona-Pandemie nicht erreichen, die Entwicklung ist nicht so vorangeschritten wie gewünscht“, begründete Löw. Deswegen nun das Umdenken: „Ein erfolgreiches Turnier ist für den deutschen Fußball und die Nation extrem wichtig.“
Der Erfolg steht über allem für Löw, der in sein letztes Turnier als Bundestrainer geht – und sich deswegen keine Gedanken mehr machen muss um langfristige Entwicklungen und etwaige Befindlichkeiten. Und für den Erfolg braucht es Führungsspieler, das war eine Erkenntnis der mehrtägigen Klausur des Trainerteams zuletzt in Berlin.
„Uns haben in einigen Spielen Stabilität und Erfahrung gefehlt“, erklärte Löw. „Müller und Hummels haben eine sehr starke Saison gespielt, sie können führen.“ Und sie wollen führen. Er habe „richtig Bock“, ließ Hummels wissen, und Müller erklärte: „Die sportliche Herausforderung, nochmals gemeinsam mit den Jungs die deutschen Farben bei einem Turnier zu vertreten und die damit verbundene Chance, den EM-Titel zu holen, reizen mich sehr.“
Keine DFB-Einsatzgarantie für Thomas Müller und Mats Hummels bei der EM
Eine Einsatzgarantie wollte Löw dem Duo zwar nicht geben, das sei für ein komplettes Turnier nicht möglich. Aber klar ist: Wer Hummels und Müller holt, holt sie nicht für die Bank. Dort werden sich eher die zwei Überraschungen finden, die Löw noch aus dem Hut zauberte: Christian Günter (28) vom SC Freiburg. Ein Außenverteidiger, der acht Länderspielminute aus dem Jahr 2014 nachweisen kann, dem Löw aber neben einer starken Entwicklung „sehr gute Dynamik in Offensive und Defensive, sehr viel Energie, hohe Schnelligkeit und eine gewisse Torgefahr“ attestiert.
Stürmer Kevin Volland kehrt zum DFB zurück
Noch mehr Torgefahr verspricht Mittelstürmer Kevin Volland, seit 2016 hartnäckig ignoriert vom Bundestrainer. Weil aber seine Mannschaft zuletzt ein Problem mit dem Toreschießen hatte, weil Volland aber für die AS Monaco 18 Saisontore erzielte und körperliche Robustheit mitbringt, entschied Löw auch in diesem Fall pragmatisch – gegen sein grundsätzliches Fußballempfinden und für Volland.
Dafür fehlen prominente Namen: Marco Reus hätte Löw nach zuletzt starken Auftritten gerne dabei gehabt – allerdings nur im topfitten Zustand. Reus aber fühlte sich müde nach einer langen Saison und einigen Verletzungen – und so entschied man sich gemeinsam gegen die EM-Teilnahme. Als offensive Allzweckwaffe ist nun der Gladbacher Jonas Hofmann dabei.
Form und Fitness stehen über allem, Verdienste der Vergangenheit zählen nicht – das mussten der Ex-Schalker Julian Draxler und der Dortmunder Julian Brandt feststellen, die aussortiert wurden, weil sie zuletzt wenig spielten. Eine Rückkehr von Jerome Boateng stand nie wirklich zur Debatte, weil Löw ein erfahrener Abwehrspieler reicht. Hummels war sportlich und körperlich der stabilere und dürfte gemeinsam mit Antonio Rüdiger das Abwehrzentrum bilden.
DFB-Trainingslager beginnt am 28. Mai
Rüdiger allerdings wird mit Verspätung im DFB-Trainingslager in Seefeld/Tirol eintreffen, das am 28. Mai beginnt. Wie Timo Werner, Kai Havertz (beide FC Chelsea) und Ilkay Gündogan (Manchester City) steht er am 29. Mai im Champions-League-Finale. Und auch auf Toni Kroos wird Löw warten müssen, der mit 101 Länderspielen erfahrenste Akteur im Aufgebot ist wegen seiner Corona-Infektion in Quarantäne. Löw allerdings macht sich (noch) keine Sorgen: „Mit Toni rechnen wir auf jeden Fall“, sagt er. Es würde sicher auch Wolfgang Goldacker freuen.