Gelsenkirchen. Am 17. April 1971 verlor Schalke mit 0:1 gegen Bielefeld. Ein verschobenes Spiel – der Auftakt des folgenreichen Bundesliga-Bestechungsskandals.

Rolf Rüssmann war einer, dem Allüren fremd waren. Ein Fußballer für die Kurve, einer, der sich den Applaus der Fans mit einer sauberen Grätsche oder einem Kopfball aus der Gefahrenzone verdiente. Die Spielweise des langen Vorstoppers, der 2009 viel zu früh verstarb, hatten die Leute als ehrlichen Fußball empfunden.

Umso tragischer, dass er dazugehört hatte.

Ein Anruf bei Rolf Rüssmann vor 20 Jahren. Er arbeitete seinerzeit als Manager beim VfB Stuttgart, und er versperrte sich Medien nicht. Als er aber den Grund für diesen Anruf erfuhr, sagte er: „Bitte nicht.“ Er schob eine Erklärung hinterher: Zu diesem Thema habe er schon so vieles gesagt, er wolle „nicht mehr daran erinnert werden“, nur weil wieder ein Jahrestag anstand.

Das Tor, das Schalkes Heimniederlage in der Glückauf-Kampfbahn besiegelte: Gerd Roggensack trifft zum 1:0 für Arminia Bielefeld, überwindet Schalkes Torhüter Dieter Burdenski. Am Boden: Jürgen Galbierz.
Das Tor, das Schalkes Heimniederlage in der Glückauf-Kampfbahn besiegelte: Gerd Roggensack trifft zum 1:0 für Arminia Bielefeld, überwindet Schalkes Torhüter Dieter Burdenski. Am Boden: Jürgen Galbierz. © imago/Horstmüller | imago sportfotodienst

Der 17. April. Damals 30 Jahre, am Samstag 50 Jahre nach einem Fußballspiel, das diese Bezeichnung nicht verdient hatte. Die 0:1-Niederlage des FC Schalke 04 in der Bundesliga gegen Arminia Bielefeld, besiegelt durch ein Tor von Gerd Roggensack in Minute 83, war von den Ostwestfalen erkauft worden. Ein schändlicher Tag in Schalkes kurvenreicher Geschichte.

40.000 Mark wurden den Schalkern in einem Briefumschlag übergeben

Die Schalker wirkten in jener Partie geradezu lustlos. Trainer Slobodan Cendic, dem bereits vorher mitgeteilt worden war, dass man sich zum Saisonende von ihm trennen würde, war empört: „Ich schäme mich vor dem Publikum, aber die Spieler schämen sich nicht.“

Sie hatten sich auf einen Deal eingelassen, der sie noch teuer zu stehen kam. Ihr ehemaliger Teamkollege Waldemar Slomiany, inzwischen für Bielefeld am Ball, hatte als Geldbote 40.000 Mark in einem Briefumschlag übergeben – wie sich später herausstellen sollte, versuchten in jener Saison mehrere Vereine, für den Klassenerhalt zu bestechen. Nach dem Abpfiff wurde das Geld unter den Schalker Profis verteilt. Einige wenige, darunter der junge Torwart Dieter Burdenski, der kurzfristig den am Meniskus verletzten Norbert Nigbur vertreten musste, wussten während des Spiels noch nichts von der Manipulation.

Burdenski hechtete und parierte, so gut er konnte. Über die Herkunft des Geldes, das man ihm später zusteckte, habe er „sich keine Gedanken gemacht“, sagte er.

Offenbachs Präsident Canellas deckte den Skandal auf

Als Horst-Gregorio Canellas, der Präsident von Kickers Offenbach, an seinem 50. Geburtstag am 6. Juni 1971 den prominenten Gästen Tonbänder mit aufgezeichneten Absprachen vorspielte, erschütterte dies den deutschen Fußball. Schalke schien von dem Bestechungsskandal anfangs noch nicht betroffen zu sein, doch die Bielefelder hingen mittendrin – und gestanden. Nach einer Enthüllungsserie der Bild-Zeitung reichte Schalke-Präsident Günter Siebert am Landgericht Essen eine Klage gegen den Springer-Verlag ein, unterfüttert durch eidesstattliche Erklärungen von acht Spielern. Erste Verhandlungen fanden im März 1972 statt – in einer wichtigen Phase der Saison einer der stärksten Mannschaften der Schalker Geschichte: Sie wurde DFB-Pokalsieger und Vizemeister.

Der DFB entzog noch während der Saison 1971/72 Arminia Bielefeld die Lizenz, die Schalker aber leugneten hartnäckig: 14 Spieler und Funktionäre beeideten im April 1972, nichts von einem verschobenen Spiel gewusst zu haben. Pure Verzweiflung. Die Existenzangst war übergroß geworden, als den Spielern bewusst wurde, was sie bei einer Verurteilung zu erwarten hatten: Waldemar Slomiany war vom DFB lebenslang gesperrt worden.

Schalke-Torwart Dieter Burdenski wurde weich und gestand

Ein Schalker aber wurde weich – für DFB-Chefankläger Hans Kindermann entscheidend, um Dominosteine zum Fallen bringen zu können. Dieter Burdenski sagte aus, dass er einen Anteil erhalten hatte. Er habe sich „der Wahrheit nicht entziehen können“, erzählte er in einem Kicker-Interview. „Ich hatte mir nach meinem damaligen Empfinden ja auch nichts zuschulden kommen lassen.“ Danach galt er für Schalke-Fans als Nestbeschmutzer, „das ging hin bis zu Morddrohungen“. Er wechselte ausgerechnet nach Bielefeld, und als er mit der Arminia kurz nach dem Geständnis auf Schalke spielte, „sind Bierpullen geflogen“. Er sei „bespuckt und beschimpft“ worden.

Der DFB reagierte. Nacheinander wurden die Schalker aus dem Verkehr gezogen. Zuerst Jürgen Sobieray, bereits für das Saisonfinale und das Pokalendspiel ‘72. Reinhard Libuda versuchte, durch einen Wechsel zu Racing Straßburg den Ermittlungen entgehen zu können – vergeblich. Der Schalker Kapitän wurde im Herbst ‘72 lebenslang gesperrt, Klaus Fischer für zwei Jahre. Im März ‘73 erwischte es auch Rolf Rüssmann, Klaus Fichtel und Aki Lütkebohmert. Nur mit größten Anstrengungen schaffte Schalke 1973 noch den Klassenerhalt.

Schalker kassierten nur 300 Mark mehr als die Siegprämie

Klaus Fischer weicht nicht aus, wenn er auf das dunkelste Kapitel seiner Laufbahn angesprochen wird. Aber der Ärger über sich selbst kommt sofort wieder hoch. „Wie kann man so blöd sein?“, sagt der legendäre Torjäger. „Wir hätten 2000 Mark Siegprämie bekommen und haben das Spiel für 2300 Mark verkauft. Die erfahrenen Spieler hatten das in die Hand genommen, weil sie einem ehemaligen Mitspieler helfen wollten. Wir Jungen haben mitgemacht, es war der größte Fehler meines Lebens. Ich könnte heute noch mit dem Kopf vor die Wand laufen wegen so viel Blödheit.“

Klaus Fichtel war 1972 der Abwehrchef des Vizemeisterteams. Er glaubt: „Wäre der Skandal nicht gewesen, wären wir in dem Jahr Meister geworden. Ich habe Spieler gesehen, die sich vor dem Anpfiff übergeben mussten.“ Zwei große Titel, glaubt Fichtel, seien ihm durch „diese Dummheit“ entgangen: „Ich wäre sicher 1972 Europameister und 1974 Weltmeister geworden.“

FC Meineid – ein böser Ruf blieb Schalke lange Zeit erhalten

Nach einiger Zeit zeigte sich der DFB etwas nachsichtiger, er begnadigte die Schalker Spieler, hob 1974 auch die lebenslange Sperre von Stan Libuda auf. Doch dessen Karriere war bereits zerstört. In einem seiner seltenen Fernseh-Interviews blickte der an Kehlkopfkrebs erkrankte Kultfußballer 1993, drei Jahre vor seinem frühen Tod, leise und traurig auf den Bestechungsskandal zurück: „Dass ich da überhaupt mitgemacht habe. Dabei wollte ich das doch gar nicht.“ Er fühlte sich entehrt, das konnte er sich selbst nie verzeihen.

Am 22. Dezember 1975 waren vor dem Essener Landgericht die Prozesse wegen Meineids abgeschlossen worden. Die spät geständigen Spieler kamen mit Geldstrafen davon, dem Verein blieb ein böser Ruf: FC Meineid. Es könnte passieren, dass Schalke 04 in der kommenden Woche aus der Bundesliga absteigt. 50 Jahre nach dem Skandalspiel. Der Gegner am nächsten Dienstag heißt Arminia Bielefeld.