Essen. Lothar Matthäus war ein begnadeter Fußballer, außerhalb des Platzes aber auch Skandalnudel. Am Sonntag wird er 60 Jahre alt.

Lothar Matthäus fällt es nicht immer leicht, „Ein Lothar Matthäus“ zu sein. Jene selbstgeschaffene Kunstfigur, bei der sich alles um Fußball dreht, von der er gerne in der dritten Person spricht. Die nicht mehr verspottet, sondern nur für ihre vergangenen Erfolge geliebt werden möchte. Und die heute noch immer durchs Leben geht wie einst durch 90 Spielminuten auf dem Rasen: immer selbstbewusst geradeaus, alle Zweifel an sich abprallen lassen. Die Art hat Matthäus als Spieler zum Weltmeister, zum Weltfußballer gemacht. Für das Leben danach hat er sich damit jedoch mehr Chancen verbaut als eröffnet.

Ein warmer Juni-Tag 2016 in Budapest, kurz vor dem Beginn der Europameisterschaft in Frankreich, ein Gesprächstermin bei seinem Lieblings-Italiener unweit des Parlamentsgebäudes und der Kettenbrücke an der Donau. Die ungarische Hauptstadt ist seit Längerem der Zufluchtsort für den Mann, der an diesem Sonntag 60 Jahre alt wird. Matthäus sitzt neben seiner fünften Angetrauten Anastasia und lässt sich Wolfsbarsch schmecken. Die Atmosphäre ist so entspannt, dass er mit der Gabel unangekündigt auch auf den Tellern der anderen nach Nudeln pickt, um zu probieren. „Schmeckt super, ne?“, fragt er.

Lothar Matthäus: In Italien "Grande Lothar", in Deutschland "der Loddar"

Lothar Matthäus und Anastasia Klimko, seine fünfte Ehefrau.
Lothar Matthäus und Anastasia Klimko, seine fünfte Ehefrau. © DPA

Gewiss. Dass sich das anschließende Gespräch aber nicht nur darum dreht, welche Spieler Bundestrainer Joachim Löw aufstellen soll und wer der nächste Europameister werden wird, schmeckt „Einem Lothar Matthäus“ dann nicht mehr so sehr. Es geht darum, warum er als Coach nicht in Deutschland Fuß fassen konnte, warum er nicht längst Bundestrainer war, warum in seiner Heimat so viele „den Loddar“ auslachen, während er doch in Italien immerhin „Grande Lothar“ ist. Für „Einen Lothar Matthäus“, ohnehin nicht als Absolvent einer Diplomatenschule bekannt, endet hier die Komfortzone: „Wir brechen ab“, ruft Matthäus seinem Manager am Nebentisch zu, „wir reden hier doch gar nicht über die EM.“

Matthäus geht das zu nah, er muss die Fragen als Angriff verstanden haben, obwohl sie nicht im Ansatz so gemeint waren. Sondern lediglich als Versuch, zu ergründen, warum die Deutschen einen ihrer größten Fußballer genauso wie das Tennis-Ass Boris Becker lieber durch den Kakao ziehen, warum er sich abseits aller eingeräumten und im Boulevard breit getretenen menschlichen Verfehlungen auch ungerecht behandelt fühlen darf. Die Antwort ist bis heute noch nicht wirklich gegeben.

In anderen Ländern bekäme Lothar Matthäus Denkmäler gebaut

In anderen Ländern wären Matthäus für seine fußballerische Vita Denkmäler gesetzt worden. Er war Kapitän und Star der Weltmeister-Mannschaft von 1990, kein Tor in der Nationalmannschaftsgeschichte strahlt mehr Entschlossenheit aus als Matthäus‘ Solo und kraftvoller Abschluss beim 4:1 im ersten Gruppenspiel über das damalige Jugoslawien. Ein Jahr später wurde er der bisher einzige deutsche Weltfußballer, Matthäus ist Rekordnationalspieler mit 150 Einsätzen. Nach seinem Wechsel aus Gladbach nach München 1984 holte der ausgebildete Raumausstatter aus Herzogenaurach sieben Meisterschaften mit dem FC Bayern, mit dem er ebenso wie mit Inter Mailand den Uefa-Cup gewann. In den meisten seiner 22 Profijahre strahlte am Fußballhimmel nur noch der Stern von Diego Armando Maradona heller.

Noch vor seinem letzten Karrierespiel im Jahr 2000 ramponierte er selbst seinen Ruf als Weltstar. Seine Nähe zum Springer-Konzern und dem eigens für ihn abgestellten Bild-Reporter verschaffte Matthäus den Ruf, chronisch indiskret zu sein. Die medial ausgetragene Feindschaft mit Jürgen Klinsmann brachte ihn 1996 um die Teilnahme und den Triumph bei der EM. Nachdem ihm aber unter Erich Ribbeck, Nachfolger von Berti Vogts als Bundestrainer, wieder eine Führungsrolle im DFB-Team zugesprochen worden war, stand Matthäus beim desaströsen EM-Auftritt 2000 mit dem Vorrunden-Aus, besiegelt durch ein 0:3 gegen die bereits für die K.o-Runde qualifizierten und nur noch mit einer B-Mannschaft angetretenen Portugiesen, sinnbildlich für das Scheitern. Auch wenn er nicht der Hauptverantwortliche dafür war.

Lothar Matthäus ist getrieben von seinem Ehrgeiz

Seine liebste Pose auf dem Spielfeld: Lothar Matthäus mit der Meisterschale. Siebenmal wurde er mit dem FC Bayern nationaler Champion.
Seine liebste Pose auf dem Spielfeld: Lothar Matthäus mit der Meisterschale. Siebenmal wurde er mit dem FC Bayern nationaler Champion. © Firo

Ohne dieses Turnier, ohne seine Sucht, auf Biegen und Brechen Rekordnationalspieler zu werden, wäre Matthäus 2000 der logische Bundestrainer geworden. Er wurde es auch deshalb nie, weil er zu häufig redete, ohne vorher nachzudenken, teils arrogant wurde und sein gesamtes Privatleben mit fünf Ehefrauen und vier Kindern öffentlich zur Schau stellte: Matthäus lud Journalisten zu Homestorys ein, öffnete vor den RTL-Kameras den Kleiderschrank seiner zweiten Frau Lolita, nachdem diese Reißaus genommen hatte. 2012 erschien bei Vox eine voyeuristische Doku namens „Lothar – immer am Ball“ über ihn. Hätte Sky den Franken mit seinem noch immer belustigenden Dialekt in dem Jahr nicht als TV-Experten und Dampfplauderer verpflichtet, der Weg von Lothar Matthäus hätte auch ins Dschungelcamp führen können.

Zu diesem Zeitpunkt war Matthäus‘ Trainerkarriere eigentlich schon beendet. Ob in Ungarn, Serbien, Brasilien, Israel oder Bulgarien – selten dauerten seine Engagements länger als ein Jahr. Er wollte immer in die Bundesliga, aber die Bundesliga wollte ihn nie. Ob es geklappt hätte? Man weiß es nicht und wird es nie erfahren. Dass ihn Boulevard-Zeitungen nun noch mal ins Spiel bringen, im Sommer nach der EM Nachfolger von Joachim Löw werden zu können, ist schmeichelhaft, aber ebenso unrealistisch. Deshalb sagt „Ein Lothar Matthäus“ heute: „Ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben. Ich habe einen Job nah am Fußball, ohne dass ich den gigantischen Druck derjenigen habe, die in der Bundesliga arbeiten. Ich bin beruflich und privat sehr zufrieden.“