Melbourne. Alexander Zverev und Novak Djokovic liefern sich bei den Australian Open ein spektakuläres Match. Der Hamburger verspielt zu viele Chancen.
Novak Djokovic vollzog im menschenleeren Geisterhaus der Rod Laver-Arena unbeirrt sein vertrautes Siegerritual, die Verbeugung in alle vier Himmelsrichtungen des Stadions, da war Alexander Zverev schon eilig vom Centre Court abmarschiert. Es war ein zorniger, gallenbitterer Abschiedsmoment für den 23-jährigen Hamburger, der lange Zeit davon träumen durfte, erstmals in seiner Karriere einen Top Ten-Spieler auf Grand Slam-Niveau zu schlagen, noch dazu den achtmaligen Melbourne-Champion Novak Djokovic. Doch am Ende war die Achterbahnfahrt dieses Viertelfinales vor leeren Rängen nur die Geschichte des nächsten Zverev-Scheiterns gegen einen der ganz Großen der Branche – 7:6 (8:6), 2:6, 4:6, 6:7 (6:8) lautete die schmerzliche Schlußbilanz für den deutschen Frontmann, der reihenweise komfortable Führungen verschleuderte und zu viele Geschenke an den keineswegs unschlagbaren Djokovic verteilte. „Mit ein bisschen mehr Konsequenz und Entschlossenheit“, urteilte aus der Distanz TV-Experte Boris Becker, „hätte Sascha das gewinnen können.“ Bis zur letzten Sekunde habe er selbst gezittert und gebangt, gab Djokovic zu, „es war komplett offen, ein echter Krimi.“
Doch Djokovic ist eben Djokovic in Matches mit dieser zugespitzten Dramatik, mit hohem Belastungsdruck, mit einem andauernden Kampf gegen den Gegner und sich selbst. Seit 2014 hat der Belgrader bei den Australian Open kein einziges Match gegen Top Ten-Konkurrenz verloren, wieder und wieder hat er die Besten der Besten bezwungen und niedergerungen – und selbst mit dem Handicap einer Bauchmuskelverletzung setzte er gegen Zverev an diesem 16. Februar 2021 über drei Stunden und 34 Minuten ein ums andere Mal einen bestaunenswerten Entfesselungsakt in Szene. „Er gibt halt nie, nie, nie auf. Du kannst dir gegen ihn nicht sicher sein. In keiner Sekunde“, sagte Zverev später, sichtlich niedergeschlagen nach dem Aus, „wir haben beide gut gespielt, das Ergebnis ist hart jetzt für mich.“ 4:1 hatte er im dritten Satz geführt, Djokovic schien tatsächlich am Boden, zerlegte sogar wutentbrannt einen Schläger auf dem verwaisten Centre Court. Aber schon in der nächsten Viertelstunde wendete der langjährige Capitano mit jäher Wucht das Drehbuch, riss die Regie an sich, nahm Zverev zwei Mal den Aufschlag ab. Und ging mit 6:4 und einer 2:1-Satzführung durchs Ziel.
Mit 23. Ass zum formvollendeten Schlusspunkt
Als Zverev später in den Katakomben gemeinsam mit seinem Bruder zur Pressekonferenz schlurfte, sah man ihn entnervt den Kopf schütteln. Man sah, wie der Weltranglisten-Siebte wiederholt über die verpassten Möglichkeiten lamentierte, wie er im Geist noch einmal den Alptraum der ausgelassenen Chancen durchlebte und durchlitt. Und ein Alptraum war auch der vierte Durchgang für Zverev, in dem er sich zunächst vom Schock des komplett unnötigen 1:2-Satzrückstands erholt zu haben schien und rasch eine 3:0-Führung herausspielte. Aber wieder setzte der 23-jährige nicht konsequent genug nach, ein neuerlicher Black-Out führte zum 3:3-Gleichstand für Djokovic. Der Titelverteidiger war wieder da, Zverev fand noch einmal zu Stabilität zurück in seinem Spiel, bei 6:5-Führung hatte er sogar einen Satzball. Aber entscheiden musste letztlich die Glückslotterie des Tiebreaks – und da markierte Djokovic mit seinem sage und schreibe 23. Ass den formvollendeten Schlußpunkt. „Ein Ende, typisch für die Nummer eins“, gab bei Eurosport Schwedens Ex-Star Mats Wilander da zu Protokoll, „so spielst du eben, wenn du hunderte Male in diesen Big Point-Lagen warst.“
Der Grand Slam-Fluch gegen Kollegen aus dem Oberhaus ging für Zvererv also weiter. Und wahrscheinlich war der Ärger über das Aus bei einem Major-Turnier selten größer als in dieser Tennisnacht, die erst gut eine halbe Stunde nach Mitternacht mit dem unnötigen Abschied in der Runde der letzten Acht endete. Djokovic sei „sicher schlagbar“ gewesen, auch wenn er „alles in allem verdient“ gewonnen habe, merkte Becker an, selbst drei Jahre Coach des serbischen Weltranglisten-Ersten: „Sascha klopft immer mal an die Tür nach ganz vorne an. Aber er hat sie noch nicht aufgemacht.“ Was in Melbourne umso schmerzlicher war, da in der nächsten Runde kein weiterer Spitzencrack auf der anderen Seite des Netzes gestanden hätte, sondern der russische Qualifkant Aslan Karazew. Der Überraschungsmann des Turniers, der es als überhaupt erster Grand Slam-Debütant ins Halbfinale schaffte. Kein sportlicher Freibrief für Zverev, diese potenzielle Partie der Vorschlussrunde, aber eben eine Riesenchance aufs erste Melbourne-Finale. „Es war sicher mehr drin“, sagte Zverevs Bruder und Manager Mischa später, „aber es ist einfach wahnsinnig schwer, gegen Novak diese letzten Punkte zu holen. Das bis zum Ende durchzuspielen.“
Nur anschauen, nicht anfassen
Als Zverev vom Centre Court wegstürmte, es war schon zwanzig Minuten vor Eins in der Nacht, da fiel ihm noch einmal der Siegerpokal der Australian Open ins Auge. Gut positioniert steht die Trophäe da im permanenten Sichtfeld der Tennis-Gladiatoren. Zverev durfte sie nur anschauen, aber nicht anfassen. Das wird am Sonntagabend ein anderer aus der Tennis-Karawane tun. Vielleicht sogar zum neunten Mal der ewige Djokovic. Der pausenlose Spielverderber Djokovic.