Essen. Sein Instinkt machte Gerd Müller zum besten Torjäger der deutschen Fußballgeschichte. Doch die Sorgen um ihn sind an seinem 75. Geburtstag groß.

Es gibt zig Anekdoten über Gerd Müller, aber diese ist eine ganz besonders schöne. Sie stammt aus Müllers drittem Leben. Im ersten war er der unnachahmliche Torjäger, der größte Stürmer in der Geschichte des deutschen Fußballs. Im zweiten war er der gestürzte Held, der vom Feierabendbierchen in den Alkoholismus gerutscht war, nach privaten wie finanziellen Problemen aus der Gosse geholt werden musste. Im dritten aber, da war er wieder der Bomber der Nation, zu dem alle ehrfürchtig aufschauten.

Gerd Müller war in den Neunziger Jahren zu Besuch in Bochum. Hermann Gerland, damals Trainer der Amateure des FC Bayern, führte seinen Assistenten durch seine Heimatstadt. Sie machten hier und da Halt, aßen und tranken etwas, mussten beim Verlassen des Lokals nie die Zeche blechen. „Er dachte wirklich, dass wir nicht zahlen mussten, weil ich aus Bochum komme“, erinnerte sich Gerland an den Ausflug. Dem verdutzten Gerd Müller hatte er einst noch erklärt, warum ihnen nichts in Rechnung gestellt worden war: „Bomber, ich muss hier immer zahlen. Die wollen kein Geld, weil du hier bist.“

Die Tor-Rekorde bleiben unerreicht

Gerd Müller hält 2003 nach der Jubiläumsveranstaltung „40 Jahre Bundesliga“ im Coloneum einen goldenen Fußballschuh in den Händen. Müller wurde auf der Gala zum erfolgreichsten Spieler seit Bestehen der Fußball-Bundesliga gekürt. Er erzielte in 427 Bundesligaspielen 365 Tore.
Gerd Müller hält 2003 nach der Jubiläumsveranstaltung „40 Jahre Bundesliga“ im Coloneum einen goldenen Fußballschuh in den Händen. Müller wurde auf der Gala zum erfolgreichsten Spieler seit Bestehen der Fußball-Bundesliga gekürt. Er erzielte in 427 Bundesligaspielen 365 Tore. © dpa | Franz-Peter Tschauner

Im Jahr 2020 angekommen, ist der Profifußball voll von Riesen und noch mehr Scheinriesen. Gerd Müller aber ist ein Mythos dieser Sportart. Wenn Spieler heute schwadronieren, das Spiel sei ihr Leben, dann hat Gerd Müller dem Fußball ein Leben, einen Sinn geschenkt. Als Inszenierung und Vermarktung in den Siebziger Jahren zunahmen, stand er noch immer für den puren Fußball: Tore schießen, stets eins mehr als der Gegner. Gerd Müller tat dies in der Bundesliga in einer Art und Weise und so häufig wie niemand anderes davor oder danach.

Umso trauriger stimmen Fans die Nachrichten unmittelbar vor seinem 75. Geburtstag an diesem Dienstag: Seit fünf Jahren und ein paar Monaten raubt dieses verflucht heimtückische Alzheimer Müllers Gedächtnis, er muss in einem Pflegeheim südlich von München betreut werden. „Der Gerd schläft seinem Ende entgegen. Er schläft langsam hinüber“, sagte nun seine Frau Uschi der Bild-Zeitung und schilderte eine „traurige Lage“: „Ich hoffe, dass er nicht nachdenken kann über sein Schicksal, über seine Krankheit, die dem Menschen die letzte Würde raubt.“

Dicke Oberschenkel und Faible für Kartoffelsalat

Tore! Tore! Tore! 68-mal ließ es der Welt- und Europameister von 1974 beziehungsweise 1972 in 62 Länderspielen müllern, 14 Treffer gelangen ihm bei nur zwei WM-Teilnahmen. Von 365 Toren in 427 Bundesligaspielen erzielte er alleine 40 in der Saison 1971/72 – bis heute unerreicht. Viermal wurde Müller mit München Meister, dreimal in Folge gewann er von 1974 bis 1976 den Europapokal der Landesmeister. Unvorstellbar, was so ein Fußballer heute verdienen würde, der den FC Bayern einst nicht für vom FC Barcelona angebotene 600.000 Mark Jahresgage verließ. Mit der Begründung: „I kann doch ned mehr als a Schnitzel am Tag essen.“

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Es war die Faszination des Einfachen, die den Mann aus Nördlingen zum gefürchtetsten Stürmer der Welt machte. „Kleines, dickes Müller“, wie ihn sein Entdecker Tschik Cajkovski seit dem Wechsel zum FC Bayern 1964 nannte, weil er so dicke Oberschenkel und ein Faible für Kartoffelsalat hatte, traf mit jedem erdenklichen und erlaubten Körperteil. Er wuchtete, stocherte, spitzelte den Ball ins Tor. „Wie oft habe ich im Training zu Katsche Schwarzenbeck gesagt: So, jetzt hau’n wir ihn um“, erinnerte sich Franz Beckenbauer. „Und was war? Eine Drehung, noch eine, und Katsche und ich haben auf dem Arsch gesessen. Und der Gerd war weg.“

Wenn Gerd ins Manöver zieht

Müller war ein Schlitzohr, Schleifchen banden eher Klaus Fischer bei Fallrückziehern, Günter Netzer bei Schlenzern oder Rainer Bonhof bei Fernschüssen ihren Treffern um. Unvergessen daher, wie Müller im WM-Finale 1974 den Siegtreffer zum 2:1 gegen Johan Cruyffs Niederlande erzielte. Hintern raus, drehen, abziehen – Tor. „Ich habe schönere Tore gemacht, aber das wichtigste war dieses Weltmeistertor“, sagte er einst dazu.

So entschlossen der Instinktfußballer Gerd Müller auf dem Fußballplatz war, so fremd war ihm abseits des Rasens der Ruhm. Die Anfänge des Profifußballs brachten auch beim FC Bayern erste Popstars hervor, von denen es Starschnitte in der Bravo gab. Bei kleineren Ausflügen ins Showbusiness, als er zum Beispiel 1967 mit Sepp Maier und Cajkovski als bayerische Soldaten im Filmklamauk „Wenn Ludwig ins Manöver zieht“ unbeholfen, aber charmant herüberkam oder 1969 „Dann macht es bumm!“ auf Platte aufnahm, machte Müller noch mit. Doch Geltungsdrang und Geschäftigkeit waren nie sein Metier.

Absturz in Florida

Zur Tragik seiner Person passte daher der persönliche Absturz, als Müller 1979 die Bayern verlassen hatte. Er ließ die Karriere in den USA bei den Fort Lauderdale Strikers an der Seite von George Best ausklingen, betrieb mit seiner Frau in Florida das Steakhouse „The Ambry“ und bewies an der Bar offenbar nicht so viel Selbstdisziplin wie auf dem Fußballplatz. 1984 verließen die Müllers Amerika. Als die Ehe zu zerbrechen drohte und die wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel stand, überredete ihn sein Freund Uli Hoeneß zu einem Alkoholentzug und gab ihm dann den Job als Co-Trainer bei den Bayern II, den er bis 2014 ausübte. „Ohne die Hilfe meiner Freunde hätte ich es wohl nicht geschafft“, sagte Müller.

Gerd Müller mit seiner Frau Uschi.
Gerd Müller mit seiner Frau Uschi. © dpa | Peter Kneffel

Seitdem ist es ruhig geworden um ihn. Die Bodenständigkeit, vielleicht auch die menschlichen Makel des Gerd Müller haben Fans stets eine gewisse Nähe zu einem der größten Fußballer in Deutschland empfinden lassen. Seine Krankheit hat davon nicht mehr viel übrig gelassen. „Er hat nur noch wenige wache Momente“, sagt Uschi Müller über ihren Mann. Auch wenn sich Gerd Müller längst nicht mehr an sein Werk erinnern kann: Der Fußball lässt ihn nie in Vergessenheit geraten.