Essen. Für viele ist Diego Maradona der größte Fußballer der Geschichte. Er wurde gefeiert, hat gefeiert - und ist abgestützt. Heute wird er 60.
Diego Armando Maradona hat beinahe sein ganzes Leben im Gedränge verbracht. Mit der Enge auf dem Fußballplatz, wenn beinharte Verteidiger ihn umstellten, ist er immer gut zurechtgekommen, so gut sogar, dass er vielen Menschen bis heute als bester Fußballer aller Zeiten gilt.
Dieser Ruf, sein Erfolg und seine Genialität auf dem Platz, engten aber auch sein Leben ein. Eine brillante Filmbiographie des britischen Dokumentarfilmers Asif Kapadia zeigt einen permanent umlagerten Menschen. Journalisten mit Mikrofonen oder Fotoapparaten, Fans mit Autogrammwünschen und Honoratioren, die sich an seiner Seite im Scheinwerferlicht sonnten, ließen dem Argentinier, der an diesem Freitag 60 Jahre alt wird, nur selten Raum zum Atmen.
Vor allem mit einem oft kakophonischen Lärm unterlegte Bilder aus der Zeit in Neapel zeigen dabei immer wieder mitten im dichtesten Gewühl, in der aufdringlichen Zuneigung einen zutiefst einsamen Menschen, den leeren Blick eines von der Situation Überforderten.
Diego Maradona: 75.000 Menschen bei der Vorstellung in Neapel
Fernando Signorini, langjähriger Fitness-Trainer des Weltstars, erinnert sich an einen Dialog mit seinem Schützling. Dem habe er gesagt: „Mit Diego gehe ich bis ans Ende der Welt. Mit Maradona nicht einen Schritt.“ Diese habe geantwortet, er sei immer Diego, aber der „Welt da draußen“, der gebe er immer nur „den Maradona“. Manchmal, ganz selten nur öffentlich, zeigte der Star auch sein charmantes Selbst, mit warmen Blick und jungenhaftem Lächeln. Dann verschwand Maradona und Diego war zurück.
Diego, das ist wohl der Junge aus Villa Florito, einem Armenviertel vor den Toren von Buenos Aires, wo er als fünftes von insgesamt acht Kindern aufwuchs. Der Fußball war, erzählte er später, sein einziger Freund in Kindheitsjahren. Aber was für einer. Bereits als 15-Jähriger gibt er sein Debüt in Argentiniens erster Liga, wird nicht nur umjubelter Jungstar beim Klub „Argentinos Juniors“, sondern zugleich auch einziger Ernährer der Familie, die er aus dem Slum mit in die Großstadt nimmt. Früh drückt also die Verantwortung auf den Schulten des Heranwachsenden. Allein, das Talent verdrängt vorerst alle Probleme: Nationalspieler mit 16, Torschützenkönig mit 17, Südamerikas Fußballer des Jahres mit 19.
1982 dann der Sprung nach Europa, zum FC Barcelona. Hohen Erwartungen folgt ein Karriereknick mit Verletzungen, Kritik und ersten Eskapaden. Die Spanier setzen den Spieler bereits nach zwei Jahren auf die Transferliste. Der SSC Neapel schlägt zu. „Der teuerste Fußballer der Welt wechselt in die ärmste Stadt Europas“, kommentiert 1984 ein Journalist den umgerechnet 24-Millionen D-Mark-Einkauf. „Ich hatte eine Wohnung statt eines Hauses, fuhr einen Fiat anstelle eines Ferraris. Es war alles eine Nummer kleiner“ erinnert sich Maradona an den Start in Neapel. Nur die Zuneigung wuchs sofort ins Unermessliche – und natürlich das Gedränge. Mindestens 75.000 Menschen strömten zur Vorstellung des Neuzugangs ins Stadion. Nur dafür.
Die zwei Lebensläufe des 1,65 Meter großen Giganten
Spätestens von diesem Moment an gibt es zwei Lebensläufe des 1,65 Meter großen Giganten zu erzählen. Die strahlende Seite des Mittelfeldspielers führte den SSC Neapel 1987 und 1990 zu den bisher einzigen Meistertiteln, 1989 zum Sieg im Uefa-Pokal und die argentinische Nationalmannschaft 1986 in Mexiko durch einen 3:2-Sieg über Deutschland im Endspiel zur Weltmeisterschaft.
Im Viertelfinale gegen England, das wegen des Falklandkonfliktes wenige Jahre zuvor von beiden Ländern als Kriegshandlung mit anderen Mitteln begriffen wurde, zeigte Maradona auch auf dem Platz seine beiden Seiten: Sein 2:0 nach atemberaubenden Solo-Lauf wurde später zum WM-Tor des Jahrhunderts gekürt, sein 1:0 nur drei Minuten zuvor, bei dem er regelwidrig und ungeahndet mit „der Hand Gottes“ nachgeholfen hatte, deutete auf dem Platz seine dunklere Seite an.
Kontakte zur Mafia, Kokain-Konsum, Partys, regelmäßige Besuche bei Prostituierten und ein unehelicher Sohn – in jenen Jahren für Italiens strenggläubige Katholiken vermutlich die größte in der langen Liste seiner Sünden: Die Neapolitaner wussten das alles, und sie hatten lange Zeit einfach weggesehen, weil er ihnen, den vom reichen Norden als „Kloake Italiens“ verachteten Süditalienern, über den Fußball ihren Stolz zurückgegeben hatten. Die Verehrung erreichte Ende der 80er Jahre jedenfalls beinahe religiöse Züge.
Ein Sieg leitete Maradonas Absturz ein
Ausgerechnet ein Sieg leitete 1990 den tiefen Fall Diego Maradonas ein. Dass die Organisatoren der Heim-WM in Italien eine mögliche Halbfinalpartie zwischen dem Gastgeber und Argentinien ausgerechnet in Neapel angesetzt hatten, erscheint im Rückblick mehr als unglücklich. Jedenfalls kegelte Maradona Italien beim Sieg durch Elfmeterschießen aus dem Turnier. Die Neapolitaner merkten plötzlich, dass sie eigentlich doch Italiener sind. Maradona wurde zur meistgehassten Figur der Stadt. Diejenigen, die vorher ihre schützende Hand über „ihren Star“ gehalten oder zumindest weggesehen hatten - Mafiosi, Politiker, Journalisten und Polizisten - zogen sich zurück. Es folgten 1991 eine Bewährungsstrafe wegen Drogenbesitzes und eine erste, weltweit gültige 15-monatige Doping-Sperre.
Maradonas aktive Zeit dauerte noch bis 1997. Faktisch aber war seine Karriere bereits in den Tagen vor dem verlorenen WM-Finale in Rom gegen Deutschland vorbei. „Ab da ging für ihn in Italien alles den Bach herunter. Der Schutz, den er erhalten hatte, brach zusammen“, erinnert sich der britische Historiker John Foot.
1991 floh Maradona aus Italien: Die Zahl der Spiele, die er danach in Spanien für den FC Sevilla, und dann wieder in seiner Heimat für die Nevilles Old Boys und die Boca Juniors bestritt, blieb überschaubar.
Drogen, Übergewicht, Magen-OPs, uneheliche Kinder
Und seither? Wer es positiv sehen möchte, zählt bis heute zahlreiche Trainerstationen. Derzeit trainiert er den argentinischen Erstligisten Gimnasia y Esgrima La Plata. Wenn zuletzt über den Jungen aus dem Slum mit dem goldenen Fuß und dem brillanten Fußballkopf berichtet wurde, dann aber meist auf den Klatschseiten. Es ging um Drogen, um Entzug, um Übergewicht, um Magen-OPs wegen des Übergewichts, um uneheliche Kinder oder auch nur um verbale Ausfälle.
„Sie nahmen ihm sein Leben“, erinnert sich Claudia Villafane, von 1989 bis zur Scheidung 2004 die Ehefrau Maradonas: „Ohne Fußball hatte er nichts zu tun. Also zerstörte er sich selbst.“ Wer ein aktuelles Foto von Maradona betrachtet, kann wieder diesen leeren Gesichtsausdruck in einem durch zahlreiche Enttäuschungen, Rückschläge und Exzesse gezeichneten Gesicht entdecken.
Die Faszination bei Diego Maradona aber besteht wohl darin, dass alle Eskapaden, Probleme und selbst Straftaten in den Hintergrund gedrängt und von Fußballfans auf der ganzen Welt lächelnd verziehen werden. Es bleiben Erinnerungen an unzählbare begeisternde Sololäufe, geniale Vorlagen und denkwürdige Tore für eine Fußball-Ewigkeit. Maradona selber lieferte dafür einst ungewollt selber die Begründung: „Auf dem Platz wird das Leben unwichtig. Die Probleme, all das wird unwichtig.“