New York. Naomi Osaka gewinnt die US Open. Die Japanerin ist eine besondere Tennisspielerin. Und das hat nicht nur sportliche Gründe.
Naomi Osaka legt es nicht darauf an, anders zu sein. Sie ist einfach anders als die anderen im Zirkus der Tennis-Wanderarbeiter. Auch in der Stunde ihres dritten Grand-Slam-Sieges im dritten Grand-Slam-Finale war es wieder so. Gut eine Minute war verstrichen nach ihrem 1:6, 6:3, 6:3-Erfolg über die 31-jährige Belarussin Viktoria Azarenka, da breitete sich die 22-jährige Japanerin sehr bedacht und keineswegs impulsiv auf dem harten Centre-Court-Boden aus. Osaka blickte in den Himmel über New York, und als man sie später fragte, warum sie das getan habe, bekam man die erstaunliche Antwort: „Ich habe oft gesehen, wenn die großen Spieler zu Boden sanken nach ihren Siegen. Ich wollte immer schon mal sehen, was sie gesehen haben.“
Am Anfang drohte ein Untergang
Osaka ist eine außergewöhnliche Erscheinung im professionellen, auf den ersten Blick glamourösen Unterhaltungsbetrieb, im schillernden Tennis-Business zwischen Schein und Sein. Und fast passt es zu ihrer unfreiwilligen Sonderrolle, dass sie nun schon zum zweiten Mal unter seltsamsten Bedingungen im US-Open-Biotop triumphierte. Zuerst 2018, als siegreiche Nebenfigur während des großen Theaters von Serena Williams in der tosenden Arena. Nun, im September 2020, als Gewinnerin des Geister-Grand-Slams, in einem verwaisten Stadion, in dem die Emotionen nur von den Hauptdarstellerinnen selbst erzeugt wurden.
Osaka schien anfangs vor einem grotesken Untergang zu stehen, fast lustlos wandelte sie im größten, beinahe menschenleeren Tennisstadion der Welt umher. Dann jedoch entfaltete sie nach 1:6, 0:2-Defizit ihre unvergleichliche Power und Spielintelligenz, drehte die Partie scheinbar ohne Kraftanstrengung um. „Ich dachte irgendwann, dass es peinlich wäre, dieses Spiel unter einer Stunde zu verlieren.“ Also gewann sie es ganz einfach, als wäre nichts leichter in diesem Grand-Slam-Universum.
Protest gegen Polizeigewalt
Osaka hat das Talent, das Frauentennis der Zukunft an erster Stelle zu gestalten, wenn nicht gar zu dominieren. Zugleich wirkt sie als hellwache Persönlichkeit längst über die Grenzen ihrer Berufswelt hinaus, ihre selten, aber dafür umso effektiver eingesetzte Stimme zu gesellschaftlichen Problemen findet immer mehr Gehör. In einem Film hat sie vor kurzem einprägsam ihr Selbstbild erklärt: „Nur weil ich ruhig bin, heißt es nicht, dass ich keinen Einfluss habe. Nur weil ich bescheiden bin, heißt es nicht, dass ich nicht selbstbewusst bin.“
Bei den US Open kam sie zu ihren sieben Auftritten jeweils mit einer anderen Maske ins Stadion, stets war der Name eines schwarzen Opfers von willkürlicher Polizeigewalt aufgedruckt, im Finale der des zwölfjährigen Tamur Rice, der 2014 in Cleveland erschossen worden war. Was sie mit dieser Aktion habe bezwecken wollen, fragte ein ESPN-Interviewer nach dem Finale die Siegerin. Osaka antwortete: „Welche Botschaft ist denn bei Ihnen angekommen?“ Ein wenig später erläuterte sie ihre Mission so: „Ich will, dass die Menschen über dieses Thema reden.“ Über ein Thema, das sie am eigenen Leib erlebte, schließlich zog die Familie Osaka einst aus Japan nach Amerika, weil die Heirat von Mutter Tamaki mit einem Haitianer als „Schande“ galt. Die Kinder, Naomi und Mari, wurden „Hafu“ genannt, „Halbjapaner“.
Mysteriös – und spannend
Osaka wirkte in den ersten Jahren im Profitennis immer etwas unergründlich, mysteriös, manchmal sogar weltentrückt. Schon immer aber war sie eine der spannendsten Figuren der Szene, eine sportliche Führungskraft wie kaum eine andere. Aber fast im gleichen Maße, wie sie die Herausforderungen auf der strapaziösen Tingeltour zusehends souveräner in den Griff bekam, reifte sie auch menschlich zu unübersehbarer, unüberhörbarer Größe und Stärke. „Viele neigen dazu, sie zu unterschätzen“, sagt die legendäre Altmeisterin Martina Navratilova. „Trotz aller Erfolge. Trotz allem, was sie tut.“
Als Osaka vom „Time“-Magazin einst in die Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt aufgenommen wurde, reagierte sie verlegen: „Keine Ahnung, weshalb das so ist.“ Auch das hat sich verändert, vor allem für die Welt jenseits des Centre Courts.