Orcieres-Merlette. Das Ziel ist Paris, aber wegen Corona kann jeder Tag der Tour de France der letzte sein. Das beeinflusst die Strategie der Stars.

Die Pandemieedition der Tour de France ist eine Gleichung mit mehr Unbekannten als gewohnt. Rennfahrer können nicht nur durch Stürze ausfallen. Auch ein positiver Corona-Test kann zur vorzeitigen Abreise führen. Zwei positive Tests in sieben Tagen bedeuten das Aus für den gesamten Rennstall. „Ein Weggang eines Teams würde nicht nur einen schweren Schlag für das betreffende Team bedeuten. Es würde auch das Rennen selbst verändern“, prognostiziert der frühere Tour-de-France-Sieger Greg LeMond.

Mitfavorit Roglic setzt ein Zeichen

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Die große Unbekannte aber ist, wie lange die Tour überhaupt durch Frankreich rollen und ob sie wie geplant Paris am 20. September erreichen wird. Dort wird nicht nur die landesweit höchste Neuinfektionsrate mit aktuell 133,1 Fällen registriert. Kein gutes Omen für ein Defilee auf den Champs-Elysees. Immerhin: Am Dienstag ist der Tross dem Ziel ein Stückchen näher gekommen. Auf der vierten Etappe zur 1825 Meter hoch gelegenen Skistation in Orcières-Merlette gewann der slowenische Mitfavorit Primoz Roglic (Jumbo-Visma). Julian Alaphilippe (Deceuninck-Quick-Step) verteidigte die Gesamtführung; Deutschlands Hoffnung auf einen vorderen Platz, Emanuel Buchmann (Bora-hansgrohe), verlor ein paar Sekunden auf den Franzosen.

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Doch wie lange geht das gut? „Niemand weiß, ob wir nach Paris kommen, das ist die Wahrheit“, meint David Brailsford. Der Waliser ist Teamchef von Ineos, das Mastermind hinter den sieben Rundfahrtensiegen seines Rennstalls in acht Jahren. Wenn schon er sich nicht sicher ist, wer dann?

Tour-Strategie: Mitnehmen, was mitzunehmen ist

Die Teams könnten daher versucht sein, ihre gewohnten Strategien zu überdenken. Warum soll man für drei Wochen planen, wenn das Rennen vielleicht schon nach zehn Tagen vorbei ist? Mitnehmen, was mitzunehmen ist, lautet daher die Devise vor allem für die kleineren Rennställe. Heiß war auf den ersten Teilstücken der Tour vor allem die Schlacht um das gepunktete Trikot des Bergkönigs zwischen den französischen Teams Cofidis und AG2R. Noch dringlicher stellt sich nun aber die Frage einer taktischen Umgestaltung bei den Anwärtern auf den Gesamtsieg. Wollen sie früher als gewohnt ins Gelbe Trikot, um es im Falle eines Abbruchs zu haben? Sie würden damit riskieren, schon früh Kräfte in die Verteidigung von Gelb investieren zu müssen – Kräfte, die bei einer dreiwöchigen Tour am Ende fehlen könnten.

Nach außen bekennen sich sowohl Titelverteidiger Ineos als auch Herausforderer Jumbo-Visma zur traditionellen Variante. „Wir fahren die Tour, als würde sie drei Wochen dauern“, betont Ineos-Boss Brailsford. „Wir haben keinen strategischen Plan, früh im Rennen das Gelbe Trikot zu übernehmen für den Fall, dass die Rundfahrt nach anderthalb Wochen abgebrochen wird“, legt sich Jumbo-Vismas Co-Kapitän Tom Dumoulin fest. Der frühere Giro-d’Italia-Gewinner meint noch provokatorisch: „Ein Sieger nach anderthalb Wochen wäre kein echter Sieger. Denn es wäre dann keine Tour, sondern ein Zehn-Tages-Rennen. Das ist etwas komplett anderes.“

Da hat er sogar Recht. Eine Grand Tour ist ein Erschöpfungsrennen, das den belohnt, der auch nach drei Wochen noch nahe an seine Höchstform kommt.

Abbruch nicht exakt geregelt

Ein Abbruch würde auch rechtliche und ökonomische Fragen aufwerfen. Denn eine Regelung, ab wie vielen Tagen eine Frankreich-Rundfahrt auch als solche zählt, gibt es nicht. Ebenso wenig, ab wann die komplette Siegprämie ausgezahlt wird. 500.000 Euro bekäme allein der Sieger des Drei-Wochen-Rennens. Das UCI-Reglement erlaubt unter Artikel 2.2.029 lediglich dem Veranstalter in Absprache mit den Rennkommissaren den Abbruch eines Rennens unter besonderen Umständen. Die Kommissare müssten entscheiden, ob die Ergebnisse annulliert oder Zwischenstände gewertet werden. Spannend bleibt es sicher bis zum letzten Moment.